Moskauer Diva
falls es Unannehmlichkeiten gab, die Grenze in der Nähe. Diesen Notausgang benutzte Zar denn auch, sobald er erfahren hatte, dass ein gewisser grauhaariger Herr, der bestens Bescheid wusste über sämtliche Warschauer Kontakte des flüchtigen Moskauers, in der Hauptstadt des Generalgouvernements eingetroffen war.
Die Jagd führte weiter durch ganz Deutschland und endete im Hamburger Hafen. Lediglich um zwanzig Minuten verspätete sich Fandorin – und sah nur noch das Heck des Schiffes, mit dem der aufgeschreckte Zarkow nach Amerika abdampfte. In der Hitze des Gefechts wollte Erast Petrowitsch eine Passage für das nächste Schiff kaufen. Den Emigranten in New York zu erwischen war ein Leichtes – er brauchte nur ein Telegramm an die Agentur Pinkerton zu schicken, damit der Gast am Pier in Empfang genommen und bis zu Fandorins Ankunft nicht aus den Augen gelassen wurde.
Doch der Eifer, der Erast Petrowitsch während der ganzen Jagd angetrieben hatte, verpuffte allmählich. Die Sache war es nicht wert. Das Auslieferungsverfahren würde sich über Monate hinziehen, und sein Ausgang war ungewiss. Schließlich hatte Zarkow selbst niemanden getötet, der Vollstrecker und einzige Zeuge war tot, und dem Verdächtigen die Beteiligung an einem Verbrechen nachzuweisen, das zudem am anderen Ende der Welt begangen worden war, schien praktisch unmöglich. Doch selbst wenn man Zar auslieferte, stand für Fandorin fest, dass er nicht vor Gerichtgestellt werden würde. Die Stadtoberen von Moskau konnten einen aufsehenerregenden Prozess mit unvermeidlichen skandalösen Enthüllungen nicht gebrauchen. Niemand wäre erbaut, brächte Fandorin Zarkow nach Moskau.
Den Rückweg trat Erast Petrowitsch von der Jagd erquickt an, und die zwei Tage im Eisenbahncoupé halfen ihm, seine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Nun schien er bereit, zu einem von Vernunft und Würde beherrschten Leben zurückzukehren.
Es ist ein großer Irrtum, zu meinen, ein kluger Mensch sei in allem klug. Er ist klug in Dingen, die Verstand verlangen, in Herzensdingen aber ist er mitunter sehr dumm. Erast Petrowitsch gestand sich seine Dummheit ein, streute sich Asche aufs Haupt und hatte die feste Absicht, sich zu bessern.
Was hieß im Grunde klug und dumm? Das Gleiche wie erwachsen und infantil. In dieser unsinnigen Geschichte hatte er die ganze Zeit gehandelt wie ein Kind. Er musste sich endlich wie ein Erwachsener benehmen. Sein Verhältnis zu Masa wieder normalisieren. Nicht mehr schmollen mit Elisa, die keinerlei Schuld trug. Sie war, wie sie war – eine außergewöhnliche Frau, eine große Schauspielerin, und dass sie ihn nicht liebte – da war nun einmal nichts zu machen. Dem Herzen konnte man nichts befehlen, wie es so schön hieß. Konnte es überhaupt lieben, das Herz einer Schauspielerin? So oder so – Elisa verdiente eine ausgeglichene, respektvolle Behandlung. Ohne heimliche kindische Blicke, ohne albernes Gekränktsein, ohne Eifersucht, zu der er keinerlei Recht hatte.
Er fuhr direkt vom Alexander-Bahnhof ins Theater, wo gerade Probe sein musste. Aus den Zeitungen wusste Fandorin, dass während seiner Abwesenheit die »Kometen« noch zwei Mal gelaufen waren, mit triumphalem Erfolg. Sehr gelobt wurde Frau Altaïrskaja-Lointaine, ebensolche Begeisterung galt ihrem Partner, der nie anders genannt wurde als »der echte Japaner Herr Gasonow«.Mit besonderer Befriedigung bemerkten die Kritiker, dass die Karten für die Vorstellungen nun erschwinglicher waren, da die tapfere Moskauer Polizei endlich das Netz der Kartenspekulanten zerschlagen habe. Die nächste Vorstellung des »asiatischen Stücks« hatte der berechnende Stern um zwei Wochen verschoben – offensichtlich, um das Interesse wachzuhalten.
Die Treppe zum Zuschauersaal stieg Erast Petrowitsch in vollkommener Ruhe hinauf. Doch im Foyer erwartete ihn eine Überraschung: Dort ging Elisa auf und ab. Er bemerkte sie als Erster. Beim Anblick der schlanken, in der Taille mit einem breiten Gürtel umschlungenen Gestalt stockte ihm das Herz, aber nur für einen Augenblick – ein gutes Zeichen.
»Guten Tag«, sagte er leise. »Warum sind Sie denn nicht auf der Probe?«
Sie färbte sich rosa.
»Sie …? Sie waren sehr lange nicht hier!«
»Ich war in Europa, geschäftlich.«
Er konnte mit sich zufrieden sein: Die Stimme ruhig und freundlich, ein wohlwollendes Lächeln, nicht das geringste Stottern. Elisa schien weit erregter als er.
»Ja, Masa sagte, Sie hätten einen Brief
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