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Moskauer Diva

Moskauer Diva

Titel: Moskauer Diva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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zu werden.
    Ohne weitere Schwierigkeiten brachte er zunächst die Gläser zurück, dann ging er in den Saal. Die »Annalen« lagen, wo sie hingehörten: auf dem Regietisch.
    Fandorin schaltete die Lampe ein, bereitete den Extraktor vor, schlug das Buch auf. Und erstarrte.
    Auf einer leeren Seite, direkt unter dem heutigen Datum, prangte in schillerndem Kopierstiftblau: »Noch vier Einheiten bis zum Soloabend. Bereitet euch vor! «
    Zum vierten Mal! Und vier Einheiten …
    Verblüfft hielt er sich das Buch direkt vor die Augen. Er sagte sich: Sehr gut. Die Spuren sind noch frisch. Heute werden wir wissen, wer der Scherzbold ist. Obwohl er nicht mehr daran glaubte, dass es sich um einen Scherz handelte.
    Hinter ihm quietschte die Tür.
    Fandorin drehte sich um – Elisa.
    Fandorin wird bei der Deduktion gestört
    In ihrer Gegenwart mit dem Extraktionsapparat zu hantieren war unmöglich. Fandorin versteckte das Gerät. Bis zur Probe war noch viel Zeit, die Schauspieler würden frühestens in einer Stunde eintreffen. Elisa musste ihn nur fünf Minuten allein lassen, das würde genügen.
    »Wollen Sie nicht hoch in Ihre Garderobe?«, fragte er nach einer qualvollen Pause.
    »Doch, ich muss Mantel und Hut ablegen und andere Schuhe anziehen. Würden Sie mich begleiten? Gehen wir durch das Foyer. Hinter den Kulissen ist es so staubig.«
    Eine Weigerung wäre unhöflich, dachte er und wusste, dass er sich etwas vormachte. Mit ihr zusammen zu sein, zu zweit die leeren, halbdunklen Flure entlangzugehen – war das etwa nicht Glück?
    Sich jämmerlich und willenlos fühlend, folgte Fandorin Elisa schweigend. Unvermittelt nahm sie seinen Arm, was seltsam war – das tat eine Dame in geschlossenen Räumen gewöhnlich nicht.
    »Mein Gott, so gehen …«, flüsterte sie, in Gedanken versunken.
    »Was?«
    »Nichts, nichts.«
    Sie ließ ihn los.
    Vor der Tür ihrer Garderobe entschuldigte sie sich und bat ihn zu warten, bis sie die Tabi – die japanischen Strümpfe – für die Sandalen angezogen habe.
    Nach fünf Minuten rief sie: »Sie können hereinkommen.«
    Elisa saß vor dem Schminktisch, schaute aber Fandorin an, und er sah sie gleich von allen Seiten: ihren Hinterkopf, ihr Gesicht, beide Seiten im Profil. Ihr Haar leuchtete im Licht der Lampen wie ein goldener Helm.
    »Ich bitte Sie, bleiben Sie ein wenig bei mir. Einfach nur bei mir. Mir geht es sehr schlecht …«
    Er senkte den Kopf, um ihr nicht in die Augen zu schauen. Er fürchtete, sich zu verraten, fürchtete, er würde zu ihr stürzen und etwas jämmerlich Unsinniges von Liebe stammeln.
    Erast Petrowitsch biss die Zähne zusammen und zwang sich, an den Fall zu denken. Die Extraktion von Speichel aus den »Annalen« musste er wohl auf den Abend verschieben, aber auch ohne die Analyse hatte er genug Stoff zum Nachdenken.
    Also, es war eine vierte Notiz aufgtaucht. Die Chronologie und Arithmetik sahen folgendermaßen aus: Am 6. September sind es bis zu einem gewissen Soloabend noch acht Einheiten, und irgendwer wird aufgefordert, sich zu »besinnen«; am 2. Oktober sind es noch sieben Einheiten; am 1. November merkwürdigerweise nur noch fünf; und schließlich heute, am 11. November, sind es nur noch vier Einheiten, und der Autor fordert dazu auf, sich »vorzubereiten«. Hinter diesem auf den ersten Blick willkürlichen Zahlenkarussell, das spürte Fandorin, steckte ein System. Und wenn es so war …
    »Ich empfinde aufrichtiges Mitgefühl für Ihren K-kummer«, sagte er laut, da Elisa offenkundig irgendeine Äußerung von ihm erwartete. »Den Bräutigam zu verlieren ist furchtbar.«
    »Es ist furchtbar, sich selbst zu verlieren! Es ist furchtbar, jeden Augenblick in Verzweiflung und Angst zu leben!«
    Sie weinte? Warum presste sie die Hand auf den Mund?
    Erast Petrowitsch machte eine jähe Bewegung auf sie zu. Hielt inne. Tat erneut einen Schritt. Elisa drehte sich um und umschlang seine Taille, presste ihr Gesicht dagegen und schluchzte.
    Das sind die Nerven. Verständlich. Die Umarmung bedeutet nur, dass sie eine Stütze braucht, Trost. Vorsichtig, ganz vorsichtig legte er ihr eine Hand auf die Schulter. Mit der anderen streichelte er ihr Haar.
    Elisa weinte lange, und in dieser ganzen Zeit weigerten sich Erast Petrowitschs Gedanken, zum Rätsel der Einheiten zurückzukehren.
    Als die Schauspielerin das nasse Gesicht hob und Fandorin ansah, verspürte er den unsäglichen Drang, sich hinunterzubeugen und jede Träne mit seinen Lippen zu trocknen. Er trat zurück. Wie

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