Moskauer Diva
Kulissen, zum Champagnertrinken mit der Truppe. Schauspieler sind ein abergläubisches Völkchen und nehmen Traditionen sehr ernst, darum stießen selbst die strikten Nichttrinker wie die Reginina und Noah Nojewitsch mit den anderen an und nippten am Glas.
Fandorin merkte sich genau, wo jeder sein Glas abstellte. Als das Künstlerfoyer sich geleert hatte, kennzeichnete er die Gläser, packte sie in sein Köfferchen und nahm sie mit. Der Büfettier hatte das Theater bereits verlassen, so dass vor dem nächsten Tag niemand ihr Fehlen bemerken würde. In der Nacht wollte Erast Petrowitsch wieder herkommen und die Gläser zurückstellen.
Im letzten Jahr, das dem Studium der Chemie gewidmet war, hatte Fandorin viel Zeit mit Blutgruppenuntersuchungen verbracht, eine neue Entdeckung, von großer Wichtigkeit nicht nur für die Medizin, sondern auch für die Kriminalistik.
Die Analyse von Blutspuren versprach in Zukunft noch interessantere Ergebnisse, doch schon jetzt konnte sie dem Ermittler eine große Hilfe sein. Vor Gericht wurden derartige Untersuchungsergebnisse bisher für die Seite der Anklage nicht als Beweismittel zugelassen, doch einer Angeklagten hatte die Blutanalyse in einem Fall bereits zum Freispruch verholfen. In einem Freudenhaus war ein Raubmord geschehen. Auf dem Kleid eines der verdächtigen Mädchen fand die Polizei frische Blutflecke und hielt die Prostituierte deshalb für die Täterin. Das Mädchen besaß kein Alibi und hatte schon einmal vor Gericht gestanden. Die Geschworenen neigten bereits zu einem Schuldspruch. Doch die Untersuchung der Blutflecke belegte, dass dieses Blut eine andere Blutgruppe aufwies als das des Opfers. Die Prostituierte wurde freigelassen, und Held des Tages war nicht ihr Anwalt, sondern der medizinische Sachverständige.
Sehr interessiert an dieser Entdeckung, ging Fandorin noch weiterund stellte fest, dass sich die Blutgruppe auch anhand von Speichelproben ermitteln lässt. Und zu eben diesem Zweck hatte er die Gläser aus der Theaterkantine kurzzeitig entwendet.
Tief in der Nacht nahm er in seinem privaten Labor Proben und analysierte sie. Es waren insgesamt sechs Gläser – Masa und Elisa hatte Fandorin aus dem Kreis der Verdächtigen ausgeschlossen. Stern nach kurzem Zögern nicht. Wer weiß, vielleicht spielte der Regisseur ja selbst den Narren – wegen seiner »Spannungstheorie« oder etwas Ähnlichem.
Wie es die Wissenschaft gebot, teilte er die Proben in vier Gruppen: drei Mitglieder der Truppe hatten Blutgruppe 0, zwei hatten A, weitere drei B und zwei AB. Außerdem wiesen die Speichelspuren in allen Fällen noch zusätzliche Besonderheiten auf. Mikroskopische Spuren von Nikotin, Lippenstift, Medikamenten ließen hoffen, dass die Identifizierung leichter sein würde, als Fandorin gedacht hatte.
Nun musste er zurück ins Theater und eine weitere Prozedur durchführen.
Draußen war es schon hell. Während sich Fandorin rasierte und ankleidete, lauschte er, ob Masa schlief. Zum ersten Mal seit langem hätte er sich vor dem Japaner wenigstens mit etwas brüsten können. Es war natürlich kein weltbewegender Durchbruch, aber immerhin hatte er etwas zu berichten.
Aber Masa schniefte gleichmäßig – beleidigt, wie es Fandorin schien. Umso besser. Heute würde er den Autor der Kritzeleien dingfest machen. Dann konnte er Masa die ganze Geschichte erzählen, sich mit ihm versöhnen und ihn in die Ermittlungen einbeziehen. Der Täter war noch frei, und er war gefährlich. Da war kein Platz für Kindereien.
Die nächste Etappe war die Entnahme von Proben aus den »Annalen«. Alle Soloabend-Notizen waren mit Kopierstift geschrieben worden, den man vor Gebrauch mit Speichel benetzt. Mit seinemselbstgebauten Extraktor wollte Erast Petrowitsch Proben eingetrockneten Speichels vom Papier kratzen. Das hatte er letzte Nacht leider nicht tun können – der Putzmann hatte die »Annalen« mitgenommen, um sie in den Saal zu schaffen, und Fandorin hatte nicht warten wollen, bis er gegangen war. Er musste ja sowieso die Gläser wieder zurückbringen.
Er betrat das Theater durch den Bühneneingang, den er mit einem Dietrich öffnete. Nach der von Stern eingeführten Regel wagte an Probentagen niemand vom Dienstpersonal, das Gebäude vor der Mittagspause zu betreten, um die heilige Handlung nicht zu stören. Nur der Pförtner saß in seiner Bude, durch eine ganze Etage vom Saal getrennt. Darum musste Fandorin nicht befürchten, zu dieser frühen Stunde von jemandem gesehen
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