Moskauer Diva
an einen rettenden Strohhalm klammerte er sich an die Deduktion.
Die sich verändernde Zahl verbleibender Einheiten bedeutete, dass es anfangs eine bestimmte Anzahl gewesen war. Durch Verminderung, die irgendwie mit der vergehenden Zeit zu tun hat, wurde diese Zahl kleiner. Erste Frage: Was war das für eine Zahl? Wie viele Einheiten waren es zu Beginn?
»Ich kann nicht mehr«, flüsterte Elisa. »Ich muss es Ihnen erzählen … Nein, nein!«
Sie wandte sich rasch ab, erblickte sich im Spiegel und schrie auf.
»Wie sehe ich aus! Bis zur Probe sind es nur noch fünfzig Minuten! Sie dürfen mich nicht so sehen! Bitte warten Sie draußen. Ich bringe mich in Ordnung und komme dann hinaus!«
Doch das Schluchzen hörte nicht auf. Noch im Flur vernahm Fandorin, wie sie schluchzte und flüsterte. Schließlich erschien Elisa, gepudert und frisch frisiert.
»Ich habe einen Nervenzusammenbruch«, sagte sie und versuchte zu lächeln. »Ich glaube, ich werde heute bei der Probe wunderbar sein. Wenn ich keinen hysterischen Anfall bekomme. Erlauben Sie, dass ich mich auf Ihren Arm stütze, das verleiht mir Kraft.«
Ihre Schultern berührten sich, er spürte, dass sie am ganzen Leib zitterte, und fürchtete, dass dieses Zittern auf ihn übergreifen könne.
x minus y ist acht. x minus y plus eins ist sieben. x minus y plus drei macht fünf. x minus y plus vier ist vier … Am Gymnasium hatte Fandorin in Algebra nicht gerade geglänzt, er hatte nur schwache Erinnerungen daran, und in sein Programm des fruchtbaren Alterns hatte er diese nutzlose Wissenschaft nicht aufgenommen. Leider. Womöglich könnte ein Mathematiker diese absurdeGleichung lösen. Obwohl – eine Gleichung mit zwei Unbekannten war doch unlösbar? Oder nicht? Er erinnerte sich nicht. Wäre da nicht die Nähe von Elisas Schulter, nicht der Duft ihres Haars, würden seine Gedanken nicht so nervös von einem zum anderen hüpfen …
Sie wollten durch die Seitentür in den Saal, aber sie war abgeschlossen. Sie mussten die Mitteltür nehmen.
»Ich kann diesen Unsinn mit den Einheiten in den ›Annalen‹ nicht mehr sehen!«, schrie Noah Nojewitsch, wild gestikulierend. »Derjenige, der das schreibt, will mich vernichten! Er sticht mit seinen Einheiten nach mir wie mit Nadeln! Schneidet mich damit wie mit Rasiermessern!«
Die gestrige Warnung des Assistenten, dass Verspätungen bestraft würden, hatte gewirkt. Obgleich bis elf noch zwanzig Minuten blieben, war bereits fast die ganze Truppe versammelt. Die Schauspieler saßen in der ersten Reihe und hörten sich träge das Gebrüll des Regisseurs an.
»Setzen wir uns erst einmal nach hinten«, bat Elisa. »Ich muss mich sammeln … Irgendwie schaffe ich das nicht recht … Mir ist, als würde ich gleich in tausend Splitter zerspringen. Wie ein kaputter Spiegel.«
»Schneidet mich damit wie mit Rasiermessern«? Fandorin zuckte zusammen. Wie viele Schnitte waren es am Hals des Millionärs gewesen?
»Schluss, ich kann nicht mehr. Komme, was da wolle«, sagte Elisa mit versagender Stimme, aber Erast Petrowitsch sah sie nicht mehr an und hörte ihr nicht mehr zu. In seinem Kopf klackten Zahlen.
»Es ist Dshingis Khan, der sie alle tötet! Mein Exmann! Er hat vor Eifersucht den Verstand verloren! Er hat zwei meiner Verehrer in Petersburg getötet! Und drei in Moskau! Er ist kein Mensch, er ist Satan! Er wird auch mich töten!«, stammelte die Schauspielerin mit tränenerstickter Stimme.
»Dhingis Khan lebte im dreizehnten Jahrhundert«, sagte Fandorin zerstreut. »Zwölf stimmt nicht. Die richtige Zahl ist elf! Elf Einheiten! Also. Acht sind elf minus drei. Sieben sind elf minus vier. Fünf sind elf minus sechs. Warum plötzlich so ein Sprung? Zum Teufel! Weil es der erste November ist! Aber am elften November, heute, sind es nur noch vier Einheiten? Aber was sind das für vier Einheiten?«
Sie sah ihn erschrocken an.
»Geht es Ihnen nicht gut?«
»Was?«
»Sie … haben Sie mir zugehört?«
Erast Petrowitsch riss sich mühsam von der Arithmetik los.
»Aber ja. Natürlich höre ich Ihnen zu. Ihr Mann Dshingis Khan tötet sie alle … Das ist eine P-psychose. Sie haben zu viel durchgemacht. Sie müssen sich beruhigen.«
Die Angst in ihren Augen verstärkte sich.
»Ja, ja, eine Psychose! Beachten Sie es nicht weiter! Ich bin nicht bei mir. Versprechen Sie mir, nichts zu unternehmen!« Sie faltete bittend die Hände. »Vergessen Sie es! Ich flehe Sie an!«
Die Reginina kam hochrot herein.
»Uff, ich hätte
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