Moskauer Diva
ließ sich auf dem Boden nieder und klappte die Spieluhrattrappe auf – die nämliche, wo die Drähte zusammenliefen, die in der Schlussszene die beiden Kometen entzünden sollten.
Die erste Erstarrung hatte sich gelöst.
»He, Bruder, du bist ja …« Lowtschilin stand auf und tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »Du musst dich beruhigen.«
Rasumowski erhob sich.
»George, mein Lieber, was machst du da oben auf der Bühne? Komm runter, lass uns reden.«
»Dewojatikin-san, man dahf den Sensei nich schelagen!«, sagte Gasonow ärgerlich und stieg auf den Hanamichi. »Das is das Alleschelimmeste!«
Stern aber, sich noch immer die Wange haltend, kreischte: »Mit ihm ist nicht mehr zu reden, er gehört gefesselt! Und dann ab in die Klapsmühle!«
Plötzlich verstummten alle erneut. Dewjatkin hielt nun eine Pistole in der Hand – die Elisa so gut bekannte Bayard, die Zeugin ihres beschämenden Versagens.
»Hinsetzen! Alle in die erste Reihe setzen!«, befahl der Assistent. »Ruhe. Zuhören. Die Zeit ist knapp!«
Sima schrie auf. Die Reginina jaulte:
»Meine Güte! Er bringt uns um, der Verrückte! Setzt euch hin, reizt ihn nicht!«
Lowtschilin, Rasumowski und Stern wichen zurück. Sie sanken auf die Sitze, wobei Rasumowski sich vor Schreck auf dem Schoß seiner einstigen Gattin niederließ, die keinen Pieps von sich gab –unter normalen Umständen wäre ein so ungezwungenes Verhalten den Räsoneur teuer zu stehen gekommen.
Nur der Japaner ließ sich nicht einschüchtern.
»Gib mir die Pistole, du Dummekopf«, sagte er sanft, wobei er weiter auf Dewjatkin zuging. »Im Guten.«
Der Saal hatte eine wunderbare Akustik. Der Schuss dröhnte so laut, dass Elisa die Ohren taub wurden. Bei ihren Schießübungen im Keller war die Bayard leiser gewesen. Masa war gerade vom Hanamichi auf die Bühne hinuntergestiegen. Mit rudernden Armen flog er unter die Sitze der ersten Reihe. Er war am Kopf verwundet. Aus einem zerfetzten Ohr floss Blut, ein roter Streifen zog sich über die Schläfe. Die Klubnikina, mit Blut bespritzt, kreischte auf.
Nun brach etwas los! Schreiend rannten die Schauspieler nach allen Seiten auseinander. Nur der vom Schuss betäubte Gasonow blieb auf dem Boden liegen, und Fandorin rührte sich nicht von der Stelle.
Elisa packte ihn am Arm.
»Er ist verrückt geworden! Er wird uns alle totschießen! Wir müssen weglaufen!«
»Ich wüsste nicht, wohin«, sagte Erast Petrowitsch und wandte den Blick nicht von der Bühne. »Außerdem ist es zu spät.«
Alle drei Türen waren verschlossen, und hinter die Kulissen zu fliehen wagte niemand – auf der Bühne saß, die Beine gekreuzt, der Verrückte und schwenkte die Pistole. Nun riss er den Arm hoch, zielte nach oben, und wieder fiel ein Schuss. Vom Kronleuchter rieselten Kristallsplitter.
»Alle auf ihre Plätze!«, rief Dewjatkin. »Wir haben zwei Minuten sinnlos vergeudet. Oder wollt ihr sterben wie dumme Tiere, ohne etwas verstanden zu haben? Ich schieße nie daneben. Wer in fünf Sekunden nicht in der ersten Reihe sitzt, wird getötet.«
In ebensolcher Hast stürzten alle zurück und setzten sich schwer atmend wieder. Elisa wich Erast Petrowitsch nicht von derSeite. Der half Masa hoch, platzierte ihn neben sich und wischte ihm mit einem Taschentuch die blutende Wunde ab.
»
Nan dja
?«, zischte Gasonow.
»Eine Kopfverletzung. Das japanische Wort habe ich vergessen.«
Der Japaner schüttelte den Kopf.
»Ich meine nich den Klatzeh! Dase – wase ise das? Dase?!« Er zeigte auf Dewjatkin.
Fandorins Antwort klang rätselhaft: »Elf Einsen und eine Neun. Ich bin schuld. Ich habe zu spät begriffen. Und keine Waffe dabei …«
Erneut fiel ein Schuss. Aus der Lehne des leeren Sitzes neben Erast Petrowitsch flogen Splitter umher.
»Ruhe im Saal! Heute bin ich der Regisseur! Das hier ist mein Soloabend! Geschwätz wird mit einer Kugel bestraft! Noch acht Minuten!«
Dewjatkins linke Hand lag auf der Schatulle – dort, wo sich die Knöpfe zum Einschalten des Stroms befanden.
»Eine einzige schnelle Bewegung von Ihnen, und ich drücke auf den Knopf«, wandte sich der Assistent an Fandorin. »Ich lasse Sie nicht aus den Augen. Ich weiß, wie flink Sie sind.«
»Da drin sind nicht nur die Schalter für das Licht, nicht wahr?« Erast Petrowitsch machte eine Pause und knirschte mit den Zähnen (Elisa konnte es deutlich hören.). »Der Saal ist v-vermint, ja? Sie waren schließlich bei den Pioniertruppen … Und ich bin ein verdammter Idiot
Weitere Kostenlose Bücher