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Moskauer Diva

Moskauer Diva

Titel: Moskauer Diva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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mich beinahe verspätet!«
    Sie warf einen Blick auf die weinende Elisa und erkundigte sich: »Was proben Sie da, Elisa? Ah, ich weiß, ›König Lear‹, fünfter Akt. Cordelia: ›Dein Unglück, Vater, beugt mir ganz den Mut, sonst übertrotzt ich wohl des Schicksals Wut.‹ 1 Spielen wir etwa demnächst Shakespeare?«
    Wir sehen wirklich aus wie Vater und Tochter, dachte Fandorin unwillig. Sie ist eine junge Frau, und ich habe schon graues Haar. Elisa aber wurde rot und wandte sich ab.
    »Bin ich die Letzte?« Die Reginina schaute sich um. »Nein, der Zerberus George ist noch nicht da, Gott sei Dank.«
    Tatsächlich, alle waren da, bis auf den Assistenten. Ganz außen in der ersten Reihe entdeckte Fandorin Masas runden Kopf. Der Japaner flüsterte mit Sima Klubnikina, schaute aber zugleich hin und wieder verstohlen zu seinem Herrn.
    Vier Einheiten – es handelt sich um Zeit! Stunden und Minuten! Aber wie passt die aus der Reihe fallende Zahl da hinein?
    Elisas Atem kitzelte sein Ohr.
    »Sie versprechen zu vergessen, was ich gesagt habe?«
    Inzwischen war Stern auf die Bühne gestiegen und blickte in den Saal.
    »Geisha Ijumi! Hören Sie auf, unseren verehrten Autor abzulenken! Kommen Sie bitte zu uns! Wir fangen an! Wo zum Teufel bleibt George? Ein schöner Wächter der Disziplin! Eine Minute vor elf, und er ist noch nicht da? Hat jemand Dewjatkin gesehen? Wo steckt Dewjatkin?«
    Fandorin machte in seinem Sessel einen Satz. Natürlich! Die Neun!
    »Wo ist Dewjatkin?!«, rief er wie Stern und stand auf.
    »Hier bin ich, hier!«
    Im Mittelgang erschien der Assistent. Heute sah er sich selbst gar nicht ähnlich: Frack, gestärkte Hemdbrust, eine weiße Chrysantheme im Knopfloch. George drehte sich um und schloss aus irgendeinem Grund die Tür ab. Als er Fandorin bei Elisa erblickte, schien er sich zu freuen.
    »Erast Petrowitsch? Das hatte ich nicht erwartet. Aber umso besser. Ohne den Autor wäre das Bild unvollständig.«
    »Dewjatkin, ich muss mit Ihnen reden.« Fandorin schaute den Assistenden durchdringend an. »Beantworten Sie mir ein paar Fragen.«
    »Ich habe keine Zeit, mit Ihnen zu reden.« Der so wundersam veränderte Regieassistent lächelte ruhig und selbstsicher. »Und die Fragen werden sich gleich von selbst erledigen. Ich werde alles erklären. Folgen Sie mir auf die Bühne.«
    »Warum haben Sie die Tür abgeschlossen?«, fragte Elisa. »Ist das eine neue Regel?«
    Aber George antwortete nicht, wie schwebend ging er zwischen den Reihen hindurch zur Bühne. Leichtfüßig lief er die Treppe hinauf auf den Hanamichi 2 . Mit der linken Hand holte er eine Uhr aus der Tasche und zeigte sie den Anwesenden.
    »Meine Damen und Herren, herzlichen Glückwunsch!«, verkündete er feierlich. »Der Soloabend wird bald beginnen. Nur noch zwei Einheiten!«

Der Soloabend
    Elf Einsen und eine Neun
    Der festlich gekleidete George, der es wagte, sich ohne Noah Nojewitschs Erlaubnis an die Truppe zu wenden, stand auf der Bühne und redete krauses Zeug: »Jetzt ist es genau 11 Uhr am 11. Tag des 11. Monats des Jahrs 1911! Das sind neun Einsen. In 11 Minuten werden es 11 Einsen sein, und der Augenblick ist vollkommen! Dann werde ich ihn anhalten! Dann beginnt mein Soloabend, meine Damen und Herren!«
    Elisa hatte diesen Unsinn kaum mitbekommen, sie war mit ihren eigenen Gefühlen beschäftigt. Sie verfluchte sich dafür, dass sie schwach geworden war und Überflüssiges geredet hatte, Gott sei Dank hatte Erast ihr hysterisches Gemurmel nicht ernst genommen. Er war heute irgendwie seltsam. Was war das heute für ein Tag, dass alle nicht ganz bei sich waren?
    Als der ob der Dreistigkeit seines Assistenten erstarrte Stern das Wort Soloabend hörte, explodierte er.
    »Ach, Sie waren das?!«, brüllte er mit schrecklicher Stimme und stürmte ebenfalls auf den Hanamichi. »Sie haben also das heilige Buch mit diesem hanebüchenen Unsinn vollgeschmiert! Ich werde Sie lehren …«
    Der Assistent verpasste seinem Idol gewandt eine schallende Ohrfeige. Sie knallte lauter als ein Schuss. Alle erstarrten, und Noah Nojewitsch griff sich, die Augen weit aufgerissen, an die Wange und krümmte sich.
    »Setzen Sie sich«, befahl ihm George. »Sie sind nicht mehr der Regisseur. Jetzt bin ich der Regisseur!«
    Der Ärmste hatte den Verstand verloren, das war Elisa klar.
    Mit großen Schritten lief er in die Mitte der Bühne, wo die Kulissen aufgebaut waren, und ging in das Zimmer der Geisha. Er blieb vor einem niedrigen Tischchen stehen,

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