Moskauer Diva
Unglück? War Genuss nicht die Abwesenheit von Leiden?
»Es gibt kein Glück auf Erden, nur Ruhe und die Freiheit«, zitierte er eine Formel, die er immer sehr gemocht hatte.
Masa dachte eine Weile nach und widersprach.
»Das ist eine irrige Äußerung von jemandem, der sich fürchtet, glücklich zu sein«, sagte er, wieder in seiner Muttersprache. »Das ist wohl das Einzige, wovor Sie Angst haben, Herr.«
Sein herablassender Ton machte Fandorin wütend.
»Geh zum Teufel, du hausgemachter Philosoph! Das ist eine Zeile von Puschkin, und ein Dichter hat immer recht!«
»Puschikin? Ooo!«
Masa machte ein ehrfürchtiges Gesicht und verbeugte sich sogar. Er hatte Respekt vor der Meinung von Autoritäten.
In der Aufnahme der Universitätsklinik, bevor der Japaner zur Untersuchung gebracht wurde, schaute er Erast Petrowitsch plötzlich aus seinen kleinen Augen durchdringend an.
»Herr, ich sehe Ihnen an, dass Sie wieder etwas ohne mich unternehmen wollen. Ich bitte Sie, bestrafen Sie mich nicht so. Ich habe ein Rauschen in den Ohren, und meine Gedanken sind einwenig durcheinander, aber das spielt keine Rolle. Denken werden Sie, ich werde nur handeln. Für einen echten Samurai ist ein verletzter Kopf eine Bagatelle.«
Fandorin stieß ihn in den Rücken.
»Geh schon, geh, lass dich vom Sensei Professor kurieren. Ein echter Samurai muss gelb sein, und du bist ganz grün. Außerdem, was ich vorhabe, ist eine Kleinigkeit, nicht der Rede wert.«
Doch Fandorin ging nicht gleich an sein Vorhaben. Zunächst fuhr er zum Telegrafen, dann zur Telefonstation. Vor dem Abrikossow-Haus auf der Kusnezki-Brücke hielt sein Isotta erst in der Dämmerung.
Khan Altaïrski wohnte in der Beletage, wo er die ganze linke Hälfte gemietet hatte.
»Wen soll ich melden?«, fragte der Türhüter, ein kräftiger Kerl mit Tscherkessenmütze und einem riesigen Dolch am Gürtel, und beäugte Fandorin misstrauisch. »Seine Hoheit sind beschäftigt. Sie geruhen zu speisen.«
»Ich w-werde mich selbst m-melden«, erwiderte Erast Petrowitsch friedfertig.
Er packte den Dshigiten am Hals, drückte mit dem Daumen auf den »Sui«-Punkt, mit dem Zeigefinger auf den »Min«-Punkt und hielt den erschlafften Körper fest, um unnötigen Lärm zu vermeiden. Diese Manipulation garantierte einen ungesunden, aber festen Schlaf von fünfzehn bis dreißig Minuten, je nach Konstitution des Betreffenden.
Zylinder und Mantel ließ Fandorin in der Diele. Er schaute in den Spiegel, ob sein Scheitel in Ordnung war. Dann lief er durch den Flur, dem melodischen Klingen von Silberbesteck nach.
Seine Hoheit speiste tatsächlich.
Der fast kahlköpfige brünette Mann mit den buschigen Brauen und der blasierten Physiognomie, die Fandorin vage bekannt vorkam,kaute düster und trank Rotwein. Nach dem Getränk, dem aufgeschnittenen Spanferkel und dem holländischen Schinken zu urteilen, hielt sich der Khan bei seiner Kost nicht an die Gesetze der Scharia.
Beim Anblick des Fremden vergaß der Hausherr, den Mund mit dem soeben abgebissenen Stück Brot zwischen den Zähnen zu schließen. Ein Diener, der dem eingeschläferten Türhüter ähnelte wie ein Zwillingsbruder, erstarrte ebenfalls, eine Karaffe in der Hand.
»Wer ist das? Warum hat man ihn hereingelassen?«, donnerte der Khan drohend und spuckte dabei das Brot auf die Tischdecke. »Mussa, jag ihn hinaus!«
Fandorin schüttelte den Kopf. Wie konnte man einen solchen Kerl heiraten, wenn auch nur für kurze Zeit? Diese Frau musste zweifellos gerettet werden – nicht vor ihren eingebildeten Feinden, sondern vor sich selbst.
Der Diener stellte den Wein ab und stürzte sich, zischend wie ein Ganter, auf Erast Petrowitsch. Der Gast behandelte Mussa ebenso wie seinen mutmaßlichen Bruder: Er schläferte ihn ein und legte ihn behutsam auf den Boden.
Das Blut wich aus der runden Glatze des verlassenen Gatten. In Erwartung, dass der ungebetene Besucher unverzüglich hinausgeworfen würde, hatte der Khan einen Schluck Wein getrunken, ihn aber noch nicht hinuntergeschluckt, und nun floss er über sein Kinn auf die gestärkte Serviette. Er sah fürchterlich aus – als habe er einen Schlaganfall und eine Hirnblutung erlitten.
»Wer sind Sie?«, wiederholte Seine Hoheit seine Frage, aber diesmal in einem ganz anderen Ton – nicht empört, sondern voller Angst.
»Mein Name ist Fandorin. Aber womöglich werde ich für Sie zu Azrael«, stellte sich Erast Petrowitsch mit dem Namen des moslemischen Todesengels vor. »Das
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