Moskauer Diva
er schon Erkundigungen eingezogen. Er war im Geschäft »Flora« bestellt worden, per Brief, dem fünfzig Rubel beigelegt waren. Der Brief war nicht erhalten, aber es hatte auch nichts Besonderes darin gestanden, nur der Auftrag, ein Kärtchen »Für die göttliche E. A. L.« beizulegen. Den Korb hatte ein Laufbursche ins Theater gebracht, wo er bis zumEnde der Vorstellung hinter den Kulissen stand, im Kabuff des Logendieners. Dort hätte im Grunde jeder eindringen können, sogar jemand von draußen. Doch Erast Petrowitsch war sich so gut wie sicher, dass für die gestrige Scheußlichkeit einer der hier Anwesenden verantwortlich war. Zumindest schien es ihm zweckmäßig, sich vorerst nicht mit anderen Hypothesen zu verzetteln.
Die Atmosphäre in der Truppe war angespannt, Leute, die sich nicht ausstehen konnten, gab es mehr als genug, aber für die Rolle des »Schlangenbeschwörers« kamen nicht alle in Frage.
Die königliche Reginina konnte er sich dabei zum Beispiel schwer vorstellen. Auch der Räsoneur würde sich bei aller Boshaftigkeit wohl kaum mit so etwas die Hände schmutzig machen – dazu war er zu gesetzt. Ruhigen Gewissens ausschließen konnte man auch Prostakow. Die Klubnikina würde kein Reptil in die rosa Fingerchen nehmen. Der Komiker Lowtschilin? Klebstoff in die Galosche des Regisseurs zu kippen – ein solcher Streich passte wohl zu ihm, aber für die Gemeinheit mit der Giftschlange bedurfte es einer besonderen Bösartigkeit. Sie verriet unbändigen, krankhaften Hass. Oder ebenso glühenden Neid.
Frau Lissizkaja mit ihrem schiefen Mund und den Fledermausohren konnte er sich ohne weiteres als Schlangenbeschwörerin vorstellen. Oder Herrn Mefistow mit seiner Abneigung gegen »hübsche Frätzchen« …
Plötzlich stockte Fandorin – er war unversehens dem schlauen Noah Nojewitsch auf den Leim gegangen und hatte lebendige Menschen mit ihrem Rollenfach gleichgesetzt. Und das kam dabei heraus: Die Hauptverdächtigen waren der Intrigant und die Intrigantin.
Nein, er durfte sich nicht vom ersten Eindruck leiten lassen. Besser, er zog vorerst keine Schlüsse. In dieser Welt war nichts so, wie es schien. Alles war unecht, vorgetäuscht.
Er musste genauer hinschauen. Schauspieler hatten keine Ähnlichkeit mit gewöhnlichen Menschen. Das heißt, sie waren ihnen eben
ähnlich
, aber in Wirklichkeit waren sie womöglich eine besondere Unterart des
homo sapiens
mit artspezifischen Verhaltensweisen.
Schon bekam er Gelegenheit, seine Beobachtungen fortzusetzen – Andrej Gordejewitsch Schustrow hielt eine Rede.
Die Besudelung der Annalen
Die Rede des Unternehmers entsprach seinem Äußeren – trocken, präzise, ohne alles Überflüssige. Als verlese Schustrow ein Memorandum oder eine Erklärung. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die Manier, seine Gedanken in Form nummerierter Thesen vorzutragen. Erast Petrowitsch bediente sich zwecks größerer gedanklicher Klarheit selbst oft dieses Mittels, doch aus dem Munde eines Förderers der Künste klang die Nummerierung seltsam.
»Punkt eins«, begann Andrej Gordejewitsch, die Augen an die Decke gerichtet, als sehe er dort die Zukunft. »Im zwanzigsten Jahrhundert werden Vorführungen zur Unterhaltung nicht mehr das Metier von Agenten, Impresarios und anderen Einzelpersonen sein, sondern eine gewaltige, gewinnbringende Industrie. Wer von uns Unternehmern dies am schnellsten begreift und am klügsten nutzt, wird hier die führenden Positionen besetzen.
Zweiter Punkt. Zu eben diesem Zweck haben ich und mein Kompagnon Monsieur Simon vor einem Jahr die ›Gesellschaft für Theater und Kinematographie‹ gegründet, in der ich mich um das Theater kümmere, er um die Kinematographie. Gegenwärtig ist Monsieur Simon auf der Suche nach Filmregisseuren und schließt Verträge mit Verleihern, kauft die notwendigen Apparaturen, baut eine Filmfabrik und pachtet Elektrotheater 23 . Gelernt hat er das alles in Paris im Studio ›Homon‹. Ich verhelfe indessen Ihrem Theater zu Berühmtheit in ganz Russland.
Punkt drei. Ich habe mich entschieden, auf Herrn Stern zu setzen, weil ich in ihm ein enormes Potenzial sehe, das ideal zu meinem Projekt passt. Noah Nojewitschs Theorie zur Verknüpfung von Kunst und Sensation halte ich für hundertprozentig richtig.
Punkt vier. Wie mein Kompagnon und ich unsere beiden Geschäftszweige zu verbinden gedenken, das erzähle ich Ihnen bei unserer nächsten Begegnung. Manches wird Ihnen ungewohnt, vielleicht sogar beunruhigend
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