Moskauer Diva
nicht mehr die Kraft zu kämpfen, weder gegen das Böse noch gegen den Tod. Wir werden das Böse in voller Pracht wiedererstehen lassen. Es wird der wichtigste Motor der Handlung sein. Dank der Tschechowschen Vielschichtigkeit der Figuren und Inhalte ist eine solche Interpretation durchaus erlaubt. Wir werden den psychologisch verwaschenen Figuren Klarheit verleihen, die Sicht auf sie schärfen, zuspitzen, sie in die traditionellen Rollenmuster bringen. Das wird unsere Innovation sein!«
»Genial!«, schrie Mefistow. »Bravo, verehrter Lehrer! Und wer ist der wichtigste Träger des Bösen? Lopachin? Der Zerstörer des Kirschgartens?«
»Das könnte ihm so passen«, spottete Smaragdow, »den Lopachin will er spielen.«
»Träger des Bösen ist der Kontorist Jepichodow«, antwortete der Regisseur dem Intriganten, und Mefistow war geknickt. »Dieser jämmerliche Mensch ist die Verkörperung des gemeinen, kleinen Bösen, dem jeder Zuschauer im täglichen Leben weit häufiger begegnet als dem großen, dämonischen Bösen. Aber es ist nicht nur das. Jepichodow ist außerdem ein wandelndes böses Omen – noch dazu mit einem Revolver in der Tasche. Sein Spitzname ist ›22 Unglücke‹. Wenn Unglück so gehäuft auftritt, macht es Angst. Jepichodow ist ein Bote der Zerstörung und des sinnlosen, grausamen Todes. Nicht umsonst wiederholen die Figuren wie einen unheilvollen Refrain die Worte: ›Jepichowdow kommt, Jepichodow kommt.‹ Er läuft irgendwo hinter der Bühne herum und zupft auf seiner Mandoline. Bei mir wird er einen Trauermarsch spielen.«
»Und welche der Frauen verkörpert das Böse?«, fragte die Lissizkaja. Stern lachte auf.
»Darauf kommen Sie nie. Warja, die Pflegetochter der Ranewskaja.«
»Wie das? Sie ist doch so lieb!«, rief Prostakow verblüfft.
»Sie haben das Stück nicht richtig gelesen, Wassenka. Warja ist eine Heuchlerin. Sie will auf Wallfahrt oder ins Kloster gehen, gibt aber den gottesfürchtigen Pilgern nichts zu essen als Erbsen. Sie wird meist als bescheidene, aufopferungsvolle und arbeitsame Person gespielt, aber wo zum Teufel ist sie denn arbeitsam? Sie ist die Wirtschafterin, die das Gut mit dem prächtigen Kirschgarten in den Ruin und den Untergang geführt hat. Der einzige Lichtblick im Stück ist der schüchterne Annäherungsversuch zwischen Petja und Anja, aber Warja verhindert mit ihrer steten Wachsamkeit, dass das zarte Pflänzchen erblüht. Denn in diesem Reich des Bösen und des Todes ist kein Platz für die lebendige Liebe.«
»Das ist sehr tiefsinnig. Sehr«, sagte die Lissizkaja nachdenklich. Über ihr hässliches Gesicht huschten in rascher Folge verschiedene Grimassen: falsche Frömmigkeit, zuckersüße Herzlichkeit, Neid und Bosheit.
»Und wer verkörpert das Gute? Petja Trofimow?«, soufflierte Prostakow dem Regisseur.
»Darüber habe ich auch nachgedacht. Das schwatzhafte, treuherzige Gute gegen das über alles triumphierende Böse? Allzu hoffnungslos. Den Trofimow bekommen natürlich Sie, Wassja. Spielen Sie ihn in der klassischen Manier des ›lieben Dümmlings‹. Die Mission des Kampfes gegen das Böse aber übernimmt der sieghafte Lopachin.« Noah Nojewitsch wies auf Smaragdow, der zu Fandorins großem Erstaunen dem beschämten Mefistow die Zunge herausstreckte. »Um Russland aus seinem Elend und seiner Armut zu holen, müssen Kirschgärten, die keine Erträge mehr abwerfen, abgeholzt werden. Ippolit, ich rate Ihnen, unseren Wohltäter Andrej Schustrow zu spielen, ihn fotografisch abzubilden. Aber – und das ist eine wichtige Nuance – das Gute ist in seiner Großmut blind.Darum nimmt Lopachin am Ende Jepichodow in seine Dienste. Wenn das Publikum das erfährt, muss es vor böser Vorahnung zusammenzucken. Böse Vorahnung ist überhaupt der Schlüssel zu diesem Stück. Alles wird bald ein Ende nehmen, ein schlechtes Ende – das ist die Grundstimmung des Stücks und unserer Zeit.«
»Ich bin natürlich die Ranewskaja«, erkundigte sich mit süßer Stimme die Grande Dame Reginina. »Von dieser Rolle träume ich seit langem!«
»Wer sonst? Eine alternde, aber noch immer schöne Frau, die für die Liebe lebt.«
»Und ich?« Elisa hielt es nicht mehr aus. »Doch nicht etwa Anja? Sie ist ein junges Mädchen, fast noch ein Kind.«
Stern beugte sich über sie und gurrte: »Aber, aber, Sie werden doch ein junges Mädchen spielen können! Anja ist Licht und Freude. Genau wie Sie.«
»Erlauben Sie, die Kritiker werden spotten! Sie werden sagen, die
Weitere Kostenlose Bücher