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Moskauer Diva

Moskauer Diva

Titel: Moskauer Diva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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hineinzieht. Diesen Persönlichkeitstyp nennt man in der Psychologie ›Skorpion‹. Das sind im Grunde unglückliche, sehr einsame Menschen.«
    Der Anfang des Gesprächs schien gelungen. Erstens hatte er es geschafft, nicht ein einziges Mal zu stottern. Zweitens musste sie ihn nun nach den psychologischen Typen fragen, und hier würde er ganz bestimmt ihr Interesse wecken.
    »Ja, das stimmt wohl!«, sagte die Altaïrskaja-Lointaine erstaunt. »Xanthippa wirkt in der Tat irgendwie innerlich gebrochen. Sie begeht Gemeinheiten, aber ihre Augen haben dabei etwas Klägliches, Bittendes. Sie sind ein aufmerksamer Beobachter, Herr …« Sie stockte.
    »Fandorin«, erinnerte er sie.
    »Ja, ja, Herr Fandorin. Stern hat gesagt, Sie seien ein Kenner der modernen Literatur, aber Sie sind doch kein einfacher Dramaturg, oder? Sie haben irgendwie etwas …
Besonderes
.« Sie hatte eine Weile nach dem passenden Wort gesucht, doch es gefiel Erast Petrowitsch. Noch mehr gefiel ihm, dass ein bezauberndes Lächelnauf ihr Gesicht getreten war. »Sie verstehen so viel von Menschen. Sie schreiben bestimmt Theaterkritiken? Wer sind Sie?«
    Er überlegte kurz und antwortete: »Ich bin ein Reisender. Und Kritiken, nein, die schreibe ich leider nicht.«
    Ihr Lächeln erlosch, genau wie das Interesse, das in ihrem so seltsam entgleitenden Blick gestanden hatte.
    »Es heißt, reisen sei interessant. Aber ich habe nie verstanden, was reizvoll daran sein soll, ewig von Ort zu Ort zu ziehen.«
    Ihr vielsagend auf die rosa Mappe gerichteter Blick konnte nur eines bedeuten: Lassen Sie mich in Ruhe, das Gespräch ist beendet.
    Doch Erast Petrowitsch wollte nicht gehen. Er musste etwas sagen, damit sie begriff, dass ihre Begegnung kein Zufall war, dass es sich um eine unbegreifliche, aber zugleich ganz offenkundige Fügung des Schicksals handelte.
    »Elisa … Verzeihen Sie, ich kenne Ihren Vatersnamen nicht …«
    »Ich schätze Vatersnamen nicht besonders.« Sie griff nach dem Textbuch. »Sie riechen nach etwas Totem und nach Asien. Als wäre man das Eigentum seines Erzeugers. Ich gehöre nur mir selbst. Nennen Sie mich ruhig einfach Elisa. Oder, wenn Sie möchten, Jelisaweta.«
    Ihr Ton war gleichgültig, ja kühl, doch Fandorin geriet in noch größere Erregung.
    »Ja, genau, Sie sind Jelisaweta, Lisa. Und ich b-bin Erast! V-verstehen Sie?«, rief er mit einer Hitzigkeit, die er bei sich nicht vermutet hatte, zudem heftig stotternd. »Ich sehe d-darin einen F-fingerzeig des Schicksals … Ihre G-geste m-mit der ausgestreckten Hand … Überdies ist September …«
    Er stockte, denn er sah: Nein, sie verstand überhaupt nichts. Keinerlei emotionale Regung, keine andere Reaktion als Verständnislosigkeit. Kein Wunder. Was sagten ihr Erast, September und eine weiße Hand?
    Er presste die Zähne zusammen. Fehlte nur noch, dass Lisa, alsoElisa, ihn für verrückt oder für einen exaltierten Verehrer hielt. In ihrer Umgebung gab es auch ohne ihn mehr als genug von beidem.
    »Ich meine, Ihr Spiel in der gestrigen Aufführung hat mich sehr beeindruckt«, sagt er beherrschter, noch immer bestrebt, ihren entgleitenden Blick zu finden und festzuhalten. »Ich habe noch nie etwas Derartiges empfunden. Nun, und dann hat mich natürlich die Namensgleichheit erschüttert. Ich heiße d-doch auch Erast. Petrowitsch …«
    »Ach ja, in der Tat. Erast und Lisa.« Sie lächelte wieder, aber zerstreut, ohne jede Wärme. »Was ist das dort für ein Geschrei? Sie zanken schon wieder …«
    Er drehte sich verärgert um. Oben schrie tatsächlich jemand. Fandorin erkannte die Stimme des Regisseurs. »Blasphemie! Frevel! Wer hat das getan?«, tönte es vom Künstlerfoyer her.
    »Ich muss gehen. Noah Nojewitsch ist zurück, und er ist über irgendetwas wütend.«
    Mit gesenktem Kopf folgte Erast Petrowitsch Lisa und verfluchte sich dafür, dass er das erste Gespräch verdorben hatte. Seit seiner frühesten Jugend hatte er sich einer Frau gegenüber nicht so idiotisch verhalten.
     
    »Ich will wissen, wer das getan hat!«
    An der Tür zum Künstlerfoyer stand der erzürnte Noah Nojewitsch mit den aufgeschlagenen »Annalen« in der Hand.
    »Wer hat es gewagt?!«
    Fandorin warf einen Blick in das Buch. Direkt unter den feierlichen Eintrag über den Unabhängigkeitstag hatte jemand mit violettem Kopierstift schief und krumm mit großen Buchstaben gekritzelt:
    Noch acht Einheiten bis zum Soloabend. Besinnt euch!
    Alle traten heran, schauten und verstanden nichts.
    »Das Theater

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