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Moskauer Diva

Moskauer Diva

Titel: Moskauer Diva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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begegnen und seine Geschichten über Elisa nicht anhören zu müssen.
    Erast Petrowitsch brachte sein Äußeres in Ordnung, kleidete sich mit aller Sorgfalt an und verließ das Haus, um spazieren zu gehen.
    Während er in seiner Höhle gesessen und vor sich hin gelitten hatte, war der Herbst mit Macht über die Stadt hereingebrochen. Er hatte die Bäume auf dem Boulevard gefärbt, die Straße mit Regengüssen gewaschen, dem Himmel ein durchdringendes leuchtendes Blau verpasst und ihn mit einem Ornament aus gen Südenfliegenden Vögeln versehen. Zum ersten Mal seit Tagen versuchte Fandorin, das Geschehene in Ruhe zu analysieren.
    Es gibt zwei Gründe, sagte er sich, während er mit seinem Stock trockenes Laub aufwirbelte. Das Alter – das erstens. Ich wollte meine Gefühle zu früh begraben. Und sie sind wie Gogols Pannotschka 6 aus dem Sarg gesprungen und haben mich zu Tode erschreckt . Und zweitens – der seltsame Zufall. Erast und Lisa, der Jahrestag, »der Elisabeth-Gedenktag«, die weiße Hand im Scheinwerferlicht. Und drittens – das Theater. Diese Welt vernebelt den Kopf wie Sumpfgas und verzerrt alle Konturen. Ich habe mich mit dieser stark sinnlichen Luft vergiftet, sie ist schädlich für mich.
    Nachzudenken und eine logische Kette zu konstruieren war eine Freude. Erast Petrowitsch fühlte sich von Minute zu Minute besser. Und unweit des Strastnoi-Klosters (er hatte gar nicht bemerkt, wie er über den Boulevardring bis hierher gelangt war) kam es zu einer Begegnung, die den Kranken endgültig auf den Weg der Besserung brachte.
    Ein grober Ausruf riss ihn aus seinen Gedanken.
    »Flegel! Rindvieh! Pass auf, wo du hinfährst!«
    Die übliche Geschichte: Ein Kutscher war dicht am Trottoir durch eine Pfütze gefahren und hatte einen Passanten von Kopf bis Fuß bespritzt. Der Beschmutzte (Fandorin sah nur einen schmalen Rücken in einem gesprenkelten Jackett und eine graue Melone) fluchte, sprang aufs Trittbrett und schlug mit seinem Stock auf die Schultern des Kutschers ein.
    Der Kutscher drehte sich um, erfasste offensichtlich mit einem Blick, dass er keinen großen Herrn vor sich hatte (in dieser Hinsicht sind Kutscher bekanntlich große Psychologen), und da er doppelt so breit war wie der Angreifer, entriss er diesem den Stock, zerbrach ihn in zwei Hälften, packte den Beschmutzten am Revers und holte mit seiner mächtigen Faust aus.
    Ein halbes Jahrhundert ohne Leibeigenschaft hat in gewisser Weise doch die Grenzen zwischen den Schichten verwischt, dachte Erast Petrowitsch abwesend. Ein Angehöriger der niederen Klasse lässt sich im Jahr 1911 von einem Herrn mit Hut nicht mehr ungestraft schurigeln.
    Der Herr mit dem Hut versuchte zappelnd, sich loszureißen, drehte sich zur Seite und entpuppte sich als ein Bekannter von Fandorin – es war der Bösewicht und Intrigant Anton Mefistow. Fandorin hielt es für seine Pflicht, sich einzumischen.
    »He, Nummer 38–12!«, rief er und überquerte eilig die Straße. »Hände weg! Du bist selber schuld!«
    Dem psychologisch geschulten Kutscher genügte ein Blick, um zu wissen: Diesem Mann widersprach er besser nicht. Er ließ Mefistow los und verkündete, in der löblichen Absicht, auf zivilisierte Weise für seine Rechte zu kämpfen: »Ich bringe ihn vor den Friedensrichter! Mich mit dem Stock zu schlagen! Das ist doch keine Art!«
    »D-das ist richtig«, bestätigte Erast Petrowitsch. »Er wird eine Strafe zahlen für die Schläge und du für die verdorbenen Kleider und den zerbrochenen Stock. Dann seid ihr quitt.«
    Der Kutscher warf einen Blick auf Mefistows Hose, überlegte, ächzte und gab seinem Pferd die Peitsche.
    »Guten Tag, Herr Mefistow«, begrüßte Fandorin den bleichen Intriganten.
    Der rief, der davoneilenden Droschke mit der Faust drohend: »Rindvieh! Proletarier! Wären Sie nicht gewesen, hätte ich ihm die Visage poliert … Aber danke, dass Sie sich eingemischt haben. Guten Tag.«
    Er wischte mit dem Taschentuch seine Kleider ab, und seine knochige Physiognomie bebte vor Wut.
    »Denken Sie an meine Worte, wenn Russland irgendwann untergehen wird, dann ausschließlich an der Flegelei! Hier sitzt einFlegel über dem anderen und kommandiert Flegel! Von oben bis unten nichts als Flegel!«
    Im Übrigen beruhigte er sich recht schnell wieder – er war schließlich Schauspieler, ein Geschöpf mit stürmischen, aber nicht sehr tiefen Emotionen.
    »Sie haben sich lange nicht blicken lassen, Fandorin.« Er musterte Erast Petrowitsch genauer, seine

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