Moskauer Diva
glühendem Eisen«, sagte Fandorin laut und steckte die Bruchstücke seines Spazierstocks in die Tasche, um keinen Unrat auf dem Trottoir zu hinterlassen.
»Mit der K-kinderei ist jetzt Schluss.«
Das Schicksal in Gestalt der sündhaften Schauspielerin, des fixen Kornetts und des boshaften Intriganten, der ihm zur rechten Zeit über den Weg gelaufen war, sorgte gnädig dafür, dass der Kranke seine Vernunft und seine Ruhe wiederfand.
Es war vorbei.
Sein Herz war nun frei, kalt und weit.
Beim Frühstück am nächsten Tag las Fandorin die angesammelten Zeitungen und hörte sich Masas Geschwätz zum ersten Mal ohne Gereiztheit an. Der Japaner wollte offenbar von dem hässlichenVorfall mit dem Kornett erzählen; er begann taktvoll mit Gedanken über die besondere Moral von Kurtisanen, Geishas und Schauspielerinnen, doch Erast Petrowitsch lenkte das Gespräch auf die erstaunlichen Ereignisse in China, wo eine Revolution begonnen hatte und der Thron der mandschurischen Qin-Dynastie ins Wanken geraten war. Masa versuchte erneut, die Rede aufs Theater zu bringen.
»Ich fahre heute dort vorbei. Später«, sagte Fandorin, und der Japaner verstummte, bemüht, die Veränderung zu begreifen, die mit seinem Herrn vor sich gegangen war.
»Sie lieben sie nicht mehr, Herr«, schloss er nach kurzem Überlegen mit der ihm eigenen Scharfsichtigkeit.
Erast Petrowitsch konnte sich eine giftige Bemerkung nicht verbeißen.
»Nein. Du kannst dich also völlig frei fühlen.«
Darauf erwiderte Masa nichts, seufzte nur und wurde nachdenklich.
Fandorin fuhr um zwei auf dem Theaterplatz vor, in der Absicht, in die Mittagspause der Probe zu geraten. Er war ruhig und konzentriert.
Frau Lointaine kann ihr Privatleben gestalten, wie es ihr gefällt, das ist ihre Sache. Aber die wegen seiner seelischen Unpässlichkeit unterbrochene Ermittlung musste fortgesetzt werden. Der Mörder musste gefasst werden.
Fandorin war kaum aus seinem Isotta gestiegen, als ein flinkes Männlein herbeigeeilt kam.
»Mein Herr«, flüsterte er, »ich habe eine Karte für die Premiere des neuen Stücks der ›Arche‹. Ein exklusives Stück aus dem asiatischen Leben. Ein origineller Titel: ›Zwei Kometen am sternenlosen Himmel‹. Mit unglaublichen Kunststücken und unerhört offenherzigen Szenen. An der Kasse gibt es dafür noch keine Karten,aber ich habe welche. Fünfzehn Rubel für den Rang, dreißig fürs Parkett. Später wird es teurer.«
Titel und Thema des Stücks waren also kein Geheimnis mehr, auch der Tag der Premiere stand bereits fest. Nun, das kümmerte Erast Petrowitsch nun nicht mehr. Zum Teufel mit dem Stück.
Auf dem Weg zum Eingang wurde er noch zwei Mal von Schwarzhändlern angehalten. Das Geschäft lief wie geschmiert. In einiger Entfernung, an derselben Stelle wie beim letzten Mal, stand der Anführer der Händler mit seinem grünen Portefeuille unterm Arm. Er schaute in den Herbsthimmel, klopfte mit seinen dicken Kautschuksohlen einen Takt, pfiff zerstreut vor sich hin, schien aber bei alledem alles um sich herum wahrzunehmen. Erast Petrowitsch fing einen Blick seiner kleinen Äuglein auf, die ihn voller Neugier oder Misstrauen musterten. Gott allein wusste, warum dieser undurchsichtige Kerl mit dem Lehmgesicht so lebhaft auf Fandorin reagierte. Erinnerte er sich an die Karte für die vierte Loge? Na und? Nun, es spielte im Grunde keine Rolle.
Seit Fandorin das letzte Mal hier gewesen war, hatte sich einiges verändert. Links neben dem Eingang entdeckte er ein großes photographisches Porträt des verstorbenen Smaragdow, auf dem Trottoir davor eine brennende Öllampe und einen Berg Blumen. Daneben hingen zwei kleinere Photographien: Zwei hysterische Damen hatten aus untröstlicher Trauer um ihr Idol Hand an sich gelegt. Eine Mitteilung im koketten Trauerrahmen verkündete, im kleinen Saal werde »für einen begrenzten Kreis von Eingeladenen« ein »Abend der Tränen« stattfinden. Selbstredend zu erhöhten Preisen.
Auf der anderen Seite des Eingangs entdeckte Erast Petrowitsch (sein Herz krampfte sich ein wenig zusammen) ein Porträt der Jugendlichen Heldin im Kimono und mit einer Takashimada-Frisur. »Frau Altaïrskaja-Lointaine in ihrer neuen Rolle einer japanischen Geisha« lautete die auffällige Unterschrift. Vor dem Foto lagen ebenfalls Blumen, wenn auch weniger.
Es hat mir doch einen Stich versetzt, konstatierte Fandorin und schwankte, ob er seinen Besuch im Theater nicht lieber auf den nächsten Tag verschieben
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