Moskauer Diva
allein Harakiribegehen. Höchstens ein tobsüchtiger Irrer in einem akuten Anfall von Wahn. Aber Limbach war nicht verrückt. Das erstens. Zweitens: Haben Sie sich den Schnittwinkel genau angesehen? Nein? Ich bin extra mit in den Sektionssaal g-gefahren, um die Wunde genau zu untersuchen. Der Schnitt wurde von jemandem ausgeführt, der vor Limbach stand. Im Augenblick des Angriffs hat der Kornett gesessen, also in keiner Weise mit einem Überfall gerechnet. Vor dem umgekippten Stuhl war, wenn Sie sich erinnern, eine beachtliche Blutlache. Genau dort ist der Angriff erfolgt. Das drittens. Und nun sehen Sie sich das Messer an. Was genau ist das?«
Subbotin nahm die Waffe in die Hand und drehte sie hin und her.
»Ein gewöhnliches Klappmesser.«
»Genau. Die Lieblingswaffe der Moskauer B-banditen, sie verdrängt mit Erfolg das Finnenmesser aus ihrem Arsenal. Mit einem solchen Messer kann man, ohne auszuholen, zustechen, ganz unbemerkt. Es wird heimlich aus dem Ärmel gezogen und hinterm Rücken aufgeklappt, so dass das Opfer es nicht sieht. Beim Zustechen hält man es in der Faust, den Daumen am Griff. Geben Sie mal her, ich zeige Ihnen, wie das geht.«
Er machte eine rasche Bewegung von hinten – Subbotin krümmte sich vor Überraschung.
»Es hinterlässt eine charakteristische Wunde, klein an der Penetrationsstelle und immer tiefer zum Ende hin. Also genau entgegensetzt zum Muster des Harakiri, bei dem die Klinge zunächst tief eindringt und dann mit einem Ruck schräg herausgerissenen wird. Ich sage noch einmal, einen so langen Schnitt wie den in Limbachs Bauch könnte sich nur ein unglaublich standhafter Samurai, der seine Hand lange trainiert hat, selbst beibringen. Gewöhnlich reichte bei den japanischen Selbstmördern die Willenskraft nur dazu, sich den Dolch in den Bauch zu stechen, und anschließend schlug der Sekundant dem Ärmsten rasch den K-kopf ab.« Fandorin sah seinen einstigen Schüler tadelnd an. »Sagen Sie, Sergej Nikiforowitsch,wie kommt ein Husarenkornett zu einem Banditenmesser?«
»Ich weiß nicht. Er hat es zufällig gekauft. Vielleicht genau zu diesem Zweck, wegen der scharfen Klinge«, antwortete der ins Schwanken geratene, aber noch immer an seiner Hypothese festhaltende Subbotin. »Ich erlaube mir, noch einmal an die Schrift an der Tür zu erinnern.« Er zeigte auf das blutige ›Li‹. »Wenn das nicht die Anfangsbuchstaben des Namens derjenigen sind, wegen der der junge Mann aus dem Leben scheiden wollte, was dann?«
»Ich habe eine Vermutung, aber lassen Sie uns erst einmal den Zeugen ein paar Fragen stellen. Es ist Zeit.«
Im Künstlerfoyer warteten Elisa, der Regisseur und sein Assistent. Erstere waren von Subbotin zum Bleiben aufgefordert worden, Stern und Dewjatkin von Fandorin.
Subbotin schickte einen Polizisten nach ihnen. Doch der brachte nur die Schauspielerin und den Assistenten mit.
»Noah Nojewitsch ist wütend und nach Hause gefahren«, erklärte Dewjatkin. »Das ist ja auch wirklich peinlich, Herrschaften. Einen Mann wie ihn warten zu lassen wie einen kleinen Dieb. Ich kann jede Ihrer Fragen zum Plan, zur Hausordnung, zu den Garderoben und so weiter beantworten. Das fällt in meine Kompetenz.«
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Fandorin die Schauspielerin.
Sie war sehr blass, ihre Augen waren geschwollen. Die Geishafrisur war verrutscht, die weiten Kimonoärmel hatten Tuscheflecke – vermutlich hatte sich Elisa damit die Tränen abgewischt. Ihr Gesicht war übrigens frisch gewaschen, ohne Schminke.
»Danke, es geht mir schon besser«, antwortete sie leise. »Serafima war fast die ganze Zeit bei mir. Sie hat mir geholfen, mich in Ordnung zu bringen, ich sah ja aus wie eine Hexe, voller schwarzer Spuren … Serafima ist vor einer halben Stunde gegangen, Herr Masa hat sich erboten, sie zu begleiten.«
»V-verstehe.«
Er ist eifersüchtig wegen Subbotin, vermutete Erast Petrowitsch. Na, zum Teufel mit ihm. Soll er sich mit seiner Klubnikina vergnügen, wir kommen ohne ihn aus.
»Zwei Fragen, gnädige Frau«, sagte er in sachlichem Ton. »Die erste: War das Türschloss schon vorher so?«
Fandorin zeigte auf die Innenseite der Tür. Der Messingbügel war leicht verbogen.
Doch Elisa schien nur die Blutspuren zu sehen. Sie kniff die Augen zusammen und sagte mit schwacher Stimme: »Ich … weiß nicht … Ich erinnere mich nicht …«
»Ich erinnere mich«, erklärte Dewjatkin. »Das Schloss war vollkommen in Ordnung. Aber was steht denn hier?«
»Das ist meine
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