Mottentanz
freundlicher älterer Herr, nahm die Fahrkarten und lächelte, nicht wie ein gutmütiger Erwachsener, der sie durchschaute, sondern wie ein Mann, der es süß findet, dass zwei französische Schwestern in seinem Zug mitfahren.
Als er weitergegangen war, sagte Nina lächelnd zu mir: »Oh, das habe ich ganz vergessen, El. In diesen Ferien sind wir aus Frankreich.«
Ich nickte stumm und grinste zurück, denn dieser Urlaub ließ sich noch besser an, als ich gehofft hatte. Ich weiß noch, wie ich mich zurücklehnte, die Knie an die Rückenlehne des Sitzes vor mir gedrückt, und aus dem Fenster sah. Draußen rasten Strommasten und Bäume vorbei, ich schlürfte die letzten Tropfen meiner Sprite von den Eiswürfeln in meinem Becher und freute mich unglaublich auf die Zeit, die vor uns lag. Es kam mir vor, als hätte ich den Hauptpreis in einem Preisausschreiben gewonnen, an dem ich gar nicht bewusst
teilgenommen hatte. Da Ninas Freunde nicht da waren, war ich plötzlich zur Nummer eins aufgestiegen. Ich war nicht mehr nur ihre kleine Schwester, sondern eine Hälfte von Team Nina, und das war das Beste, was einem Menschen passieren konnte.
Die ersten vier Tage waren perfekt. Morgens gingen wir mit einer Tasche voller Bücher und Ninas iPod an den Strand. Wir legten uns auf unsere Strandtücher, redeten mit Akzent miteinander und sprachen über die Details unseres erfundenen französischen Lebens: Unsere Eltern gehörten zur französischen Aristokratie und wir lebten in einem Herrenhaus mit unserem Hund Bijoux. Wenn wir den Strand entlangspazierten, rief Nina gelegentlich: »Bijoux? Komm heeeer, Bijoux! Wo bist du, mon chérie?« Als sei Bijoux ausgebüxt und wir auf der Suche nach ihm. Irgendwann gingen wir dann schwimmen und danach aßen wir zu Mittag und spazierten über die Promenade. Dann spielten wir Federball oder etwas Ähnliches und dann gab es Abendessen. Unsere Tante ließ uns machen, was wir wollten, solange wir zusammenblieben und um neun Uhr zu Hause waren. Jeder Tag fühlte sich so magisch, wunderbar und perfekt an, dass ich hätte ahnen sollen, dass mein Glück nicht von Dauer sein würde.
Am fünften Tag traf Nina Nick. Ich wusste von dem Augenblick an, als der große, schlaksige Junge in den tief sitzenden Surfer-Shorts vor uns stand und uns zwei »Zitronensprudel-Eis« anbot, dass er mir den Rest meines Sommer ruinieren würde. Ich wollte, dass er wieder verschwand. Ich wollte ihm sagen, dass wir eigentlich kein Zitroneneis mochten. Wenn
er nicht so dumm gewesen wäre, dann hätte er gewusst, dass die meisten normalen Menschen Kirsche am liebsten mögen, gefolgt von Traube und Orange, in dieser Reihenfolge. Ich wollte auch erwähnen, dass ein Eis aus Zitronenlimonade einfach Zitroneneis heißt und man die Limonade weglässt. Aber Nina nahm das Eis mit einem flirtenden Lächeln und einem schüchternen »Merci« entgegen und in diesem Moment veränderte sich alles. Bis zu diesem Augenblick hatte ich gedacht, die Akzente seien ein Witz zwischen Nina und mir, aber wie sich herausstellte, lag ich damit falsch. Ich durfte an dem Witz teilnehmen, aber es war ihrer. Nicht meiner. Und als ich beobachtete, wie Nina französisch mit Nick flirtete, übermannte mich das schreckliche Gefühl, das einen überkommt, wenn man etwas begreift, was zwar offensichtlich, aber sehr unangenehm ist. Meine Schwester war auch ein Mensch, wenn ich nicht dabei war. Sie hatte ein Leben, mit dem ich so gut wie nichts zu tun hatte.
Nach diesem Tag hatten Nina und ich eine neue Routine. Wir standen auf, packten unsere Tasche und gingen zum Strand, wo ich den Rest des Tages alleine unter meinem Sonnenschirm mit den Büchern und Ninas iPod verbrachte, während sie mit Nick und seinen Surfer-Freunden herumzog. Sie luden mich immer ein, aber ich ging nie mit. Sie fragten mich nur, weil sie sich dazu verpflichtet fühlten, und das war auch okay, denn schließlich waren sie alle sechzehn, siebzehn oder achtzehn und ich erst zwölf.
Nachts lagen Nina und ich auf unseren Betten in dem Zimmer, das wir uns teilten. Das Fenster war geöffnet und die warme, salzige Luft ließ die blau und weiß gestreiften
Vorhänge tanzen. »Ist es nicht wundervoll hier?«, fragte sie. »Würdest du nicht am liebsten für immer hierbleiben?« Aber da sprach sie schon mit sich selbst, nicht mit mir.
So verging dieser Sommer.
An unserem letzten Abend packten wir unsere Sachen und gingen zu Bett. Irgendwann mitten in der Nacht erwachte ich davon, dass Nina sich
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