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Mottentanz

Mottentanz

Titel: Mottentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Weingarten
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tausendmal geführt.
    Und dann steht meine Mom einfach so da und ignoriert die Tatsache völlig, dass da noch jemand außer mir auf der Couch sitzt. Sie ist nicht absichtlich unhöflich, sie versteht nur solche Situationen manchmal nicht. Versteht nicht, wie Leute sich verhalten. Wie Leute sich verhalten sollten.

    Schließlich steht Sean auf. »Hi«, sagt er. »Ich bin Sean.« Er streckt die Hand aus.
    Meine Mutter starrt sie nur an. Sie mustert ihn. Dann schaut sie zu mir. Dann wieder zu Sean. »Hallo«, sagt sie ungelenk. »Ich bin Ellies Mutter.«
    Ich stecke die Hand in die Tasche und berühre die Zeichnung. Aber ich weiß, dass ich sie ihr nicht zeigen kann. Ich wünschte, ich könnte.
    »Ich dachte, du hättest heute Nachtschicht«, sage ich.
    »Mein Plan wurde geändert. Ich habe gestern Nacht durchgearbeitet. Vor einer Stunde bin ich nach Hause gekommen.«
    »Wie geht es den Babys?«, frage ich. Und dann zu Sean: »Meine Mutter arbeitet in der Neonatologie. Auf der Intensivstation. «
    »Wow«, sagt Sean. »Das muss ziemlich hart sein.«
    »Heute hatten wir Frühchen-Zwillinge«, sagt Mom. »Sechzehn Wochen zu früh. Im Moment sind sie stabil, aber es ist schwer zu sagen, ob sie es schaffen.« Meine Mutter schüttelt den Kopf. Sie trägt immer eine ganz spezielle Art von Erschöpfung mit sich herum, die von ihr auszustrahlen scheint. Wenn ich sie ein paar Tage nicht gesehen habe, merke ich das noch deutlicher als sonst. Wenn ich mich in ihrer Nähe aufhalte, stecke ich mich daran an wie an einer Grippe. Dann fühle ich mich, als sitze jemand auf meiner Brust, und ich möchte nach draußen gehen, an einen Ort mit Lichtern und Lärm und vielen, vielen Menschen.
    »Wie schrecklich«, sage ich.
    »So ist das Leben nun mal«, sagt meine Mom achselzuckend und seufzt tief.

    Als ich noch klein war, bettelte ich oft darum, mit ihr zur Arbeit gehen zu dürfen, denn ich dachte, ich könnte dort mit vielen süßen Babys spielen. Aber sie erlaubte es mir nie. Als ich neun war, zeigte mir Nina im Internet das Bild eines winzigen Frühchens, das siebzehn Wochen zu früh auf die Welt gekommen war. »Mom hat sich um dieses Baby gekümmert«, sagte sie. Sein Kopf erinnerte mich an eine Aprikose — klein, mit zartem Flaum bedeckt, irgendwie weich. Die winzigen Ärmchen und Beinchen waren so dünn wie mein Zeigefinger. Die Haut des Babys war so durchsichtig, dass ich alle Adern durchschimmern sah. Laut dem Artikel, zu dem das Bild gehörte, hatte dieses kleine Wesen nur drei Stunden lang gelebt. Dieses Bild anzusehen und das zu wissen, erfüllte mich mit einer fast unerträglichen Traurigkeit, die ich damals noch nicht verstand. Ich trauerte nicht nur um das Baby, sondern um alle Menschen auf der ganzen Welt. Das Baby erinnerte mich an eine Tatsache, die wir alle wissen, aber wenn wir Glück haben, vergessen dürfen: Die Welt ergibt keinen Sinn, Dinge passieren oft ganz ohne Grund und das Leben ist nicht fair und soll es auch nicht sein. Seit diesem Tag verstand ich meine Mutter besser als davor.
    »Ich gehe mal wieder nach oben«, sagt sie. Ich beobachte, wie sie in ihrem Bademantel zur Treppe geht, das Glas fest in der Hand.
    »Mom?«, rufe ich. Einen Moment lang bin ich wider besseres Wissen versucht, ihr zu erzählen, was hier vor sich geht.
    »Ja, Ellie?« Meine Mom dreht sich um. Ihre Schultern sacken leicht nach unten.

    Aber ich kann es ihr nicht sagen. Und ich werde es auch nicht tun. Ob um ihret- oder um meinetwillen, weiß ich nicht.
    »Gute Nacht, Mom«, sage ich.
    »Gute Nacht, Ellie«, sagt meine Mom. Dann ist sie weg.
    »Deine Mom ist ja ziemlich cool«, sagt Sean. »Es hat ihr gar nichts ausgemacht, dass du einen fremden Typen neben dir auf dem Sofa hast.«
    »Ich weiß nicht, ob ich das cool finden soll«, murmele ich. »Aber danke.«
    »Besser als meine Mom«, sagt Sean mit einem Grinsen. »Die ist verrückt.«
    Ich schaue nach unten. Der Laptop ist endlich betriebsbereit. Aber ich fange erst an zu tippen, als ich die Tür zum Zimmer meiner Mutter ins Schloss fallen höre.
    Nach kurzer Suche lande ich auf der Website der Bank. Sie lädt langsam hoch, das Bild zeigt einen Mann und eine Frau, die an einem Schreibtisch sitzen und lächelnd Kaffee trinken. Mein Herz hämmert.
    Ich klicke den Kundenbereich an. Ein kleiner Link führt zu dem Bereich »Passwort vergessen«.
    Ich klicke ihn an und werde auf eine neue Seite geführt. Bitte antworten Sie auf folgende Fragen, um Zugriff auf Ihr Konto zu erhalten.
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