Mottentanz
weites Land. Jedes Mal, wenn uns ein Auto oder ein Laster entgegenkommt, fühle ich einen kleinen Stich im Herz, als wären wir alle Mitglieder eines speziellen Klubs, in dem die Leute lange aufbleiben und geheime Missionen erfüllen, und irgendwie kommt es mir so vor, als würden sie alle ebenfalls nach meiner Schwester suchen.
Um ein Uhr morgens sehe ich am Rand der Straße ein Schild, auf dem ein großes Stück Kirschkuchen über den
Worten: Sweetie’s Diner, Amerikanisches Traditionshaus, seit 1953 rund um die Uhr geöffnet. Die besten Pfannkuchen der Welt, nächste Ausfahrt zu sehen ist. Ich schaue Sean an, er schaut mich an, und wir fangen an, breit und idiotisch zu grinsen. Ich kann nicht glauben, dass wir es wirklich geschafft haben.
Sean nimmt die Ausfahrt, fährt einmal im Kreis, und dort, in der dunklen Nacht von Nebraska, liegt ein riesiges rosafarbenes und silbernes Restaurant, über dem der orangefarbene Neonschriftzug SWEETIE’S prangt. Im meilenweiten Umkreis gibt es nichts Helleres. Sean fährt auf den großen Parkplatz, wo noch zwei weitere Autos stehen, außerdem drei Trucks und ein großer Bus mit der Aufschrift MidAmerican Busline und einem großen weißen Schild mit der Nummer 257 über der Windschutzscheibe.
Sean parkt. Wir steigen aus.
Die Luft ist kühl und klar, und als ich zu dem Sternenhimmel aufschaue, rufe ich mir in Erinnerung, dass diese winzigen Lichtpünktchen größer sind, als ich mir vorstellen kann, und dass die bedrohliche Dunkelheit im Grunde genommen nur Leere ist.
Wir gehen zur Tür und stoßen sie auf.
Sweeties Diner ist mir sofort vertraut, wie es ein gutes Diner sein soll. Große Tische und zerkratzte Chromhocker an der Bar, an der Decke Ventilatoren aus Holzimitat, die den rauchigen Duft von Speck, leicht verbranntem Kaffee und warmem Kuchen im Raum verteilen. Wir stehen unter den grellen Lichtern und blinzeln wie zwei Menschen, die gerade erst geboren wurden.
Sie war einmal hier, glaube ich. Nina. Meine Schwester
war einmal in genau diesem Raum. Ich atme tief ein, als sei ein Teil von ihr noch immer hier, und wenn ich ihn mit meinem Atem einfangen könnte, würde ich die Antworten finden, die ich schon so lange suche. Aber ich rieche nur Essen. Mein Magen knurrt, und ich merke auf einmal, dass Sean und ich nicht zu Abend gegessen haben.
Eine Frau mit zum Dutt zusammengefassten grauen Haaren läuft mit zwei vollen Tellern an uns vorbei. »Setzt euch hin, wo ihr wollt, Kinder«, sagt sie und deutet mit ihrem Kinn auf den hinteren Teil des Diners, als sei sie es gewohnt, die Hände nicht frei zu haben.
Sean steuert eine Ecke ganz hinten an und sieht sich beim Gehen gemächlich um. Er betrachtet die Ventilatoren an der Decke, den gesprenkelten Linoleumboden. Wir passieren eine Frau Ende zwanzig, in deren Armen ein Kleinkind in einem Chicago-Bears-T-Shirt schläft, ein älteres Ehepaar, das auf der gleichen Seite des Tisches sitzt und Tee trinkt, einen Mann Anfang dreißig, der leicht nach vorne gebeugt dahockt, die Hand um die Gabel gelegt, die Augen geschlossen, als mache er ein Nickerchen und wolle nicht, dass es jemand mitbekommt. Sean setzt sich auf eine Bank und ich nehme ihm gegenüber Platz. Er öffnet seine Karte, starrt aber ins Leere. »Sean?«, sage ich.
Sean schüttelt den Kopf und sieht mich an. »Sorry.« Er lächelt.
Eine Kellnerin nähert sich uns. Sie ist groß und dick und wirkt freundlich und irgendwie tröstlich, als könne sie gut umarmen. Auf ihrem Namensschild steht Rosie. »Hi, was kann ich euch bringen, ihr Süßen?«
»Meine verschwundene Schwester«, würde ich am liebsten sagen, aber stattdessen grabe ich nur in meiner Tasche nach dem Foto von ihr. Plötzlich bin ich nervös. Sean schaut mich mit seinen schönen schieferfarbenen Augen an, und als sich unsere Blicke treffen, spüre ich wieder diesen Blitz. Er ist mir inzwischen vertraut, aber die Heftigkeit überrascht mich jedes Mal aufs Neue, und der Knoten in meinem Magen lockert sich ein bisschen.
Ich schaue zu Rosie auf und zögere noch eine Sekunde den Augenblick hinaus, bevor ich wissen werde, was sie mir sagen wird. Ich ruhe noch ein wenig in diesem Moment, in dem noch alles möglich ist, und dann öffne ich den Mund. »Ich wollte fragen, ob Sie oder jemand, der hier arbeitet, dieses Mädchen schon mal gesehen hat.« Ich lege das Foto auf den Tisch. Rosie schaut es sich an. »Ich bin auf der Suche nach meiner Schwester«, erkläre ich, »und glaube, dass Sie sie vielleicht
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