Mount Dragon - Labor des Todes
weniger als zehn Minuten würden sie sich in Reichweite von Nyes Gewehr befinden. Zwei rasche, saubere Schüsse auf vierhundert Meter Entfernung, dann zwei weitere, um ganz sicherzugehen und noch mal zwei für die Pferde. Carson und de Vaca würden sterben, bevor sie ihn überhaupt zu Gesicht bekamen.
Langsam wurde es Zeit. Nye legte sich auf die harte Lava, brachte das Gewehr in Position und nahm den Kolben an die Wange. Er bemühte sich, langsam und regelmäßig durch die Nase zu atmen und seinen Herzschlag zu verlangsamen. Wenn es soweit war, würde er wegen der erhöhten Treffsicherheit zwischen zwei Herzschlägen schießen.
Nye hob kaum merkbar den Kopf und sah sich um. Zuerst meinte er, der Junge sei verschwunden, aber dann entdeckte er ihn doch. Er hüpfte auf einem Lavafelsen auf der anderen Seite des Abhangs herum und war weit von dem entfernt, was jetzt gleich geschehen würde.
Nye brachte sich wieder in Position, blickte durchs Zielfernrohr und ließ das Fadenkreuz über den Wüstenboden wandern, bis sich eine der beiden Gestalten genau in dessen Mitte befand.
»Nicht schießen!« ertönte eine Stimme hinter den Wachen. »Ich habe Mr. Scopes am Funkgerät.« Levine hörte, wie Worte gewechselt wurden, dann senkte sich der Pistolenlauf, und einer der Wachmänner riß Levine unsanft hoch. Man führte ihn einen gedämpft beleuchteten Gang entlang, zuerst vorbei an einem großen, dann an einem kleineren Sicherheitsraum. Als die Wachleute in einen schmalen Gang einbogen, von dem zu beiden Seiten Türen wegführten, wurde Levine klar, daß er vor Stunden schon einmal hier gewesen war, und zwar gemeinsam mit Fido, dem Cyberhund. Jetzt konnte er in dem Gang das Summen von Ventilatoren hören. Vor der massiven schwarzen Tür am Ende des Ganges blieben die Wachen stehen. Levine mußte seine Schuhe ausziehen und in ein Paar Schaumstoffpantoffeln schlüpfen. Ein Wachmann sagte etwas in sein Funkgerät, und kurz darauf hörte Levine, wie sich mehrere elektrisch gesteuerte Schlösser öffneten. Die Tür sprang mit einem scharfen Zischen einen Spalt weit auf. Als einer der Wachmänner sie ganz öffnete und Levine eintrat, schlug ihm kühle Luft entgegen.
Der achteckige Raum ähnelte in nichts dem Turmzimmer in Scopes' Cypherspace. Er war riesig und dunkel und machte mit seinen kahlen Wänden einen seltsam sterilen Eindruck. Levines Blick fiel als erstes auf das berühmte Piano, dann auf den schimmernden Tisch mit den Intarsien und schließlich auf Scopes. Der Chef von GeneDyne saß mit einer Computertastatur auf den Knien auf einem abgewetzten Sofa in der Mitte des Raums und bedachte Levine mit einem zynischen Grinsen. Sein schwarzes T-Shirt war voller Flecken, die aussahen wie getrocknete Pizzasoße. Vor ihm an der Wand befand sich ein großer Bildschirm, auf dem immer noch das Bild des Turmzimmers zu sehen war. Weit draußen über dem Meer blinkte der Leuchtturm von Pemaquid Point.
Scopes drückte auf eine Taste, und das Bild verschwand. »Durchsuchen Sie ihn nach Waffen oder irgendwelchen elektronischen Geräten«, sagte Scopes zu den Wachleuten. Er wartete, bis sie damit fertig waren und den Raum verlassen hatten, dann faltete er die Hände und sah Levine an. »Ich habe mir mal die Wartungslisten angeschaut«, sagte er, »und daraus geht hervor, daß du ziemlich lange in dem Aufzug gewesen bist. Dreizehn Stunden insgesamt. Würdest du dich gerne etwas frisch machen?« Levine schüttelte den Kopf.
»Dann nimm doch bitte Platz«, sagte Scopes und deutete auf das andere Ende des Sofas. »Und was ist mit deinem Freund? Findest du nicht, daß er uns Gesellschaft leisten sollte? Ich meine damit den Computerspezialisten, der für dich die schwierigen Arbeiten übernommen hat. Er hat seine Handschrift überall in unserem Netzwerk hinterlassen, und ich brenne darauf, ihn kennenzulernen und ihm zu sagen, was ich von seinen üblen Methoden halte.«
Levine schwieg. Scopes sah ihn lächelnd an und strich sich die widerspenstige Locke aus der Stirn. »Ist lange her, seit wir uns zuletzt gesehen haben, nicht wahr, Charles? Ich muß sagen, daß mich deine Anwesenheit hier ziemlich erstaunt. Noch verblüffender allerdings finde ich dein Angebot, das Patent nun doch zu erneuern, nachdem du dich all die Jahre so standhaft geweigert hast. Wie schnell man doch seine Prinzipien aufgibt, wenn es einem an den Kragen geht. Es ist einfacher, für seine Prinzipien zu kämpfen, als ihnen zu entsprechen. Oder dafür zu sterben. Habe ich
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