Mount Dragon - Labor des Todes
an seine Lippen. »Gott«, hörte sie ihn stöhnen, »o Gott.«
»Stirb mir jetzt bloß nicht weg«, sagte sie ruppig und machte einen festen Knoten in das Hemd. Dann packte sie Carson unter den Achseln. »Wir müssen hinter diesen Felsen in Deckung gehen.« Unter Aufbietung sämtlicher Kräfte rappelte Carson sich auf und schleppte sich zu ein paar größeren Lavafelsen in der Nähe. Kaum hatte er es bis hinter einen von ihnen geschafft, brach er vor Erschöpfung zusammen. De Vaca krabbelte auf allen vieren zu ihm und untersuchte seine Wunde, deren Anblick ihr fast den Magen umdrehte. Aber wenigstens würde er jetzt nicht mehr verbluten. Sie hockte sich neben ihn und untersuchte ihn genau. Auf Anhieb konnte sie keine weiteren Verletzungen entdecken, aber Carsons blaue Lippen deuteten darauf hin, daß er viel Blut verloren hatte. Eine weitere Schußwunde würde er nicht überleben. De Vaca dachte fieberhaft nach. Der Schütze konnte nur Nye sein, der offenbar die Verfolgung abgebrochen und sich hier an der Lavaschlucht auf die Lauer gelegt hatte. Jetzt, wo er ihnen die Pferde totgeschossen hatte, würde es nicht mehr lange dauern, bis er kommen und auch ihnen jeweils eine Kugel verpassen würde.
De Vaca zog Mondragons Dolch aus Carsons Gürtel, ließ ihn aber gleich wieder frustriert fallen. Was hätte sie damit auch gegen einen Mann mit einem Repetiergewehr ausrichten können?
Vorsichtig spähte sie hinter dem Felsen hervor und sah Nye, der etwa zweihundert Meter von ihr entfernt auf der Lava kniete und auf sie anlegte. Die Kugel jaulte wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt vorbei und bohrte sich in einen Felsen hinter ihr. De Vaca spürte, wie kleine Gesteinssplitter auf ihren Nacken prasselten, und erst einen Sekundenbruchteil später hörte sie den Knall des Schusses, der von den Felswänden zurückgeworfen wurde.
De Vaca duckte sich hinter den Felsen und kroch an ihm entlang, um an einer anderen Stelle wieder dahinter hervorzuschauen. Nye hatte sich aufgerichtet und kam auf sie zu. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen, denn es lag im Schatten des Tropenhelms. Jetzt war er nur noch hundert Meter von ihnen entfernt. Er würde einfach herkommen und sie beide töten, und sie konnte nicht das geringste dagegen unternehmen.
Carson stöhnte und klammerte sich an sie, als wolle er ihr etwas sagen.
De Vaca kroch wieder hinter den Felsen, hockte sich hin und wartete darauf, daß eine Kugel ihr den Kopf zertrümmerte. Sie konnte hören, wie Nyes Stiefel knirschend auf sie zukamen, und vergrub den Kopf in ihren Händen. Dabei schloß sie fest die Augen und bereitete sich, so gut es ging, auf den Tod vor.
Auf dem großen Bildschirm vor ihnen erschien ein einziges Wort:
Eitelkeit.
Scopes dachte einen Augenblick nach, dann räusperte er sich und sagte: »Die Eitelkeit ist der Stolz des Schwachen. Karl Julius Weber.«
»Sehr gut«, sagte Levine. »Wer Eitelkeit zum Mittagsbrot hat, bekommt Verachtung zum Abendbrot. Benjamin Franklin.«
»Früher war ich mal eitel, jetzt bin ich perfekt. W. C. Fields.«
»He, Moment mal«, sagte Levine. »Dieses Zitat habe ich noch nie gehört.«
»Möchtest du mich herausfordern?«
»Nein«, sagte Levine nach kurzem Nachdenken.
»Dann mach weiter.«
»Die Eitelkeit spielt dem Gedächtnis oft unheimliche Streiche. Joseph Conrad.«
Ohne zu zögern, antwortete Scopes: »Die Eitelkeit ist das abscheulichste Geschenk der Evolution. Darwin.«
»Ein Mensch, der eitel ist, kann nie ganz froh sein, denn er wünscht zu gefallen, und so akkomodiert er sich ändern. Goethe.« Scopes schwieg.
»Was ist? Fällt dir nichts mehr ein?« fragte Levine. Scopes lächelte. »Ich suche mir nur gerade etwas unter meinen verschiedenen Möglichkeiten heraus. Mit Ausnahme der Eitelkeit gibt es keine Torheit, von der man einen Menschen, der nicht ein vollkommener Narr ist, heilen könnte. Rousseau.«
»Da kann ich nur ebenfalls mit einem Rousseau-Zitat antworten:
Wenn die Eitelkeit jemals jemand glücklich gemacht hat, so war dieser Jemand sicherlich ein Dummkopf.« Beide sagten lange nichts.
»Alles ist eitel Sonnenschein. Aus dem Volksmund.«
»Jetzt pfeifst du aber schon auf dem letzten Loch«, schnaubte Levine verächtlich. »Du bist dran.«
Levine dachte lange nach. »Ein Journalist ist eine Art Verbrecher: Er schleicht sich ins Vertrauen der Leute ein, bis er Einblick in ihre Eitelkeit, ihr Unwissen und ihre Einsamkeit erlangt, und stellt sie dann ohne jedes Mitleid bloß. Janet
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