Mount Maroon
umarmen, zögerte aber, weil sie ihn ansah, wie man einen Fremden ansieht. Auch sonst wirkte sie verändert, älter und auf eine ganz besondere Art kühl, fast kalkulierend, wie jemand, der abwägt, ob er seine Freundlichkeit gewinnbringend ausspielen soll oder sie lieber solange zurückhält, bis sein Gegenüber zu einem höheren Opfer bereit wäre. Aber nein, ihm stand kein Pokerface gegenüber, es war Ellen. Er konnte sie erkennen, wie durch eine Maske in sie hineinsehen, ihre Liebenswürdigkeit fühlen. Offenbar hatte er sie einen Moment zu lange angestarrt, denn zwischen ihren Augen entstand ein Fältchen. Es war, als habe sie den Bogen gespannt, um bei Bedarf den tödlichen Pfeil abzuschießen.
- „Ja bitte, was kann ich für Sie tun?“
- „Ellen?“
- „Entschuldigen Sie, kennen wir uns?“
Da war das schnelle Kopfschütteln, das ihre Haare kurz nach links und rechts warf, wenn sie ein Anflug von Unsicherheit überkam.
- „Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll … Mir ist da eine ganz merkwürdige Geschichte passiert …“
Es half nichts, sie erkannte ihn nicht, war sie es doch nicht? Er musste die Sache anders angehen.
- „Darf ich dir, pardon, Ihnen, ein paar Fragen stellen?“
- „Ich verstehe nicht …“
- „Sie sind Mrs. Ellen McGywer, richtig?“
- „Ja … sind Sie von der Polizei?“
- „Nein, ich …“
Ellen sah, wie sich am Fenster des gegenüberliegenden Hauses die Gardine bewegte.
- „Kommen Sie doch herein, Mr. …?“
- „Saunders, Peter Saunders.“
Er wartete einen Augenblick, bemerkte aber keine Regung in Ellens Mimik. Sie führte ihn durch einen gefliesten Korridor ins Wohnzimmer, in dem sich kostbare Antiquitäten mit teuren Gebrauchsmöbeln stilvoll arrangierten. Durch die große Fensterfront sah man über die Terrasse in einen gepflegten Garten, in dem ein groß gewachsener Mann mit einem etwa achtjährigen Jungen Federball spielte.
- „Nehmen Sie doch Platz, Mr. Saunders. Das da draußen sind übrigens mein Mann und einer meiner Söhne.“
- „Wie lange sind Sie schon verheiratet?“
- „Oh, seit fast zehn Jahren“, sagte Ellen im Tonfall einer Mischung aus Stolz und Verlegenheit.
- „Aber was hat das mit Ihnen zu tun?“, fragte sie ihn. Peter sah ihr ernst ins Gesicht.
- „Ich hatte einen Autounfall und habe offenbar mein Gedächtnis verloren. Das seltsame ist nur, dass ich eine vollständige Erinnerung an ein Leben habe … an ein Leben, das ich scheinbar gar nicht gelebt habe. Ich bin vor ein paar Tagen in einem Krankenhaus aufgewacht, in das man mich nach dem Unfall – an den ich übrigens keinerlei Erinnerung habe – gebracht hat. Mein Ausweis und meine Sachen sind verbrannt. Als man meine Personalien aufgenommen hatte, stellte sich heraus, dass derjenige, der ich zu sein glaube, gar nicht existiert. Meine Wohnung gibt es nicht und meine Familie auch nicht. Ich habe aber eine präzise Erinnerung daran, verstehen Sie?“, er zögerte. „Und ich habe eine Erinnerung daran, mit Ihnen verheiratet zu sein.“
- „Sie machen mir Angst, Mr. Saunders.“
Jetzt war es Ellen, die ernst aussah. Sie saßen nah beieinander auf dem Sofa. Der Mann im Garten hatte den Besucher offenbar bemerkt und bemühte sich, ihn durch die das abendliche Sonnenlicht reflektierende Scheibe zu erkennen.
- „Ihr Mädchenname ist Hudson. Sie sind in einem Herrenhaus im viktorianischen Stil in Rochester aufgewachsen. Mit 18 sind sie von zuhause weggegangen und durch Amerika gezogen, haben in Madison Pädagogik studiert und sind Lehrerin geworden …“
Ellen lachte auf, erleichtert, befreit, als habe sich schlagartig eine innere Beklemmung gelöst.
- „Ich wollte Lehrerin werden, das ist richtig, wie alles, was Sie sonst über mich gesagt haben. Aber ich habe mein Studium abgebrochen und bin Anwältin geworden. Ich sollte die Kanzlei meines Vaters übernehmen, aber während des Jurastudiums habe ich Gary kennengelernt, meinen Mann. Seine Familie hat hier in York ein großes Autohaus. Er ist Prokurist. Ich arbeite halbtags bei einem Notar und kümmere mich um die Jungs.“
- „Moment mal, Sie haben Madison demnach am 17. Mai 1996 tatsächlich verlassen?“
- „Ich kann mich nicht genau an das Datum erinnern, aber es war im Frühjahr 1996. Woher wissen Sie das?“
- „Es war der Tag, nachdem wir uns kennengelernt haben.“
- „Aber wir haben uns nicht kennengelernt.“
- „Sie kennen demnach auch keinen Luther Bannister, oder?“
- „Nie
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