Mount Maroon
ersten Drei. Peter hatte ihr versprochen, mit dabei zu sein und sie anzufeuern. Doch daran schien er sich jetzt gar nicht mehr zu erinnern. Er war viel zu sehr mit sich beschäftigt. Ellen hatte das Frühstück gemacht und mit Irene allein gegessen. Dreimal hatte sie Peter gerufen, doch er kam nicht. Wecken musste sie ihn indes nicht, denn er lag mit offenen Augen auf seinem Bett und starrte gegen die Zimmerdecke. Er hatte sich einige Tage nicht rasiert, was noch nicht ungepflegt wirkte, aber im Vergleich zu früher eine auch äußerlich sichtbare Veränderung darstellte. Ellen hatte in der Hoffnung, ihn würde das schöne Wetter beflügeln, die Vorhänge aufgezogen, doch auch damit keinerlei Reaktionen ausgelöst. Schließlich bat sie Irene mit ihrer besten Freundin und deren Eltern schon einmal vorzufahren. Sie und Peter würden später nachkommen. Dann ging Ellen zurück ins Schlafzimmer.
Sie war sanft und legte sich dicht neben ihren Mann. Von der Seite betrachtete sie ihn. Er sah wirklich gut aus: das fast schwarze Haar, die dunkelbraunen Augen, die gebräunte Haut. Besonders mochte sie seine langen, dichten Wimpern. Ein Südländer durch und durch. Der Bart gab ihm etwas Verwegenes. Sie erinnerte sich an ihre Hochzeitsreise nach Mexiko. Auch damals trug er einen Dreitagebart und die Händler auf den Märkten nannten ihn „El Bandido“, wenn er mit ihnen feilschte. Peter wandte den Kopf. Er schaute sie an und sah winzige Tränen in ihren warmen, blauen Augen. Als er ihre Wange streichelte, wurden daraus kleine Rinnsale. Beiden war bewusst, wie zerbrechlich das Glück sein konnte, aber auch wie groß es war. Viel größer als jeder Einzelne von ihnen. Ja, sie waren im Laufe der Zeit älter geworden und auch eingefahrener in ihren alltäglichen Bezügen. Sie hatten sich zusammen das Leben aufgebaut, von dem sie dachten, es verfestige ihr Glück, gieße es in Blei ohne schwer zu werden, gebe Halt ohne starr zu sein, hülle sie ein, ohne eng zu werden. Niemals dachten sie daran, dass einer von ihnen krank werden oder sterben könnte. Oder ließen sie diese Gedanken einfach nicht zu, blockten sie ab, so dass sie nicht von ihnen Besitz ergreifen und wahr werden konnten? Peter hatte Ellen von der Wanderung erzählt, auch von dem Abend an dem dieses fürchterliche Gewitter die beiden Freunde heimgesucht hatte. Alles andere wusste Ellen nicht, aber im Grunde gab es dieses Andere ja auch gar nicht. Es war ein Alptraum. Luthers Tod war schwerwiegend genug und warum sollte er sie mit Dingen belasten, die sein Unterbewusstsein aus irgendeinem unerklärlichen Antrieb heraus produziert hatte, Ängste, Sehnsüchte, Befürchtungen, was auch immer. Aber war es ehrlich, ihr gegenüber zu verheimlichen, was ihn über Luthers Tod hinaus noch bedrückte? Brach er durch sein Schweigen ihr Vertrauen? Die erste Antwort, die er sich gab, war ein klares Nein. Um nichts in der Welt hätte er diese andere Realität, diese düstere Seite seines Ichs gegen das eintauschen wollen, was Ellen und Irene ihm Tag für Tag gaben. Eigentlich war er ein glücklicher Mann. Doch seine anhaltende Niedergeschlagenheit bedrückte die ganze Familie. Er spürte deutlich, dass er es war, der die Geschichte in irgendeiner Weise auflösen musste. Mit Zeit allein war hier offenbar nichts zu gewinnen, der Stachel saß tief in seinem Fleisch. Fühlte sich so etwa ein Trauma an, eine schreckliche Erinnerung, die einen nicht mehr loslässt? Doch wie genau sollte er es benennen? Was war der zentrale Punkt hinter dieser Grenzerfahrung? Peter hatte wirklich lange darüber nachgedacht. Doch fuhren seine Gedanken Karussell, langsam zwar, aber stetig, im Kreise um ein großes Loch, einen Abgrund. Oder war es mehr ein Gedankenstrudel, der ihn bereits unmerklich in die Tiefe riss?
Ellens Kopf lag auf seiner Brust. Deutlich spürte er, wie ihre Tränen seine Haut benetzten. Sie weinte leise, nicht krampfartig, kein Schluchzen, ein sachte dahin strömender Bachlauf, der die harmonischen Auen nur passierte, ohne an ihnen Halt zu finden, und unweigerlich dem kalten Meer zustrebte. In diesem Augenblick wurde Peter klar, dass ihre Tränen und sein Trauma den gleichen Ursprung hatten. Es war die Angst vor dem Verlust, dem Verlust all dessen, was sie verband, dem Verlust der Welt. Dass aber ausgerechnet seine Verlustangst, die von Ellen auslöste, erschien ihm grotesk. Es half nichts, er musste es ihr erzählen.
Peter berichtete von seinem Aufenthalt im Krankenhaus, von seinem
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