Mount Maroon
Gespräch mit Marty, seiner gruseligen Entdeckung in der Akte, der Flucht. Er sprach von Mr. Dick, dem Zustand des Mayfield und seiner Begegnung mit Ellen in dem Siedlungshaus in York. Er erzählte von den Gedächtnistests und Hirnuntersuchungen, von Mason und Luther, schilderte die Ereignisse auf dem Friedhof und ihr abenteuerliches Entkommen in Onkel Georges altem Pick-up. Dann folgten die verunglückte Cessna-Landung, die wilde Verfolgungsjagd durch den imaginären Laborkomplex und die Ermordung Luthers. Er endete mit seinen klaustrophobischen Erfahrungen im Belüftungsschacht und einer Beschreibung der seltsamen großen Röhre. Die Episode mit Tracy, seiner aufdringlichen Mitfahrgelegenheit, ließ er aus. Nicht weil es keine Bedeutung hatte, sondern obwohl es nicht wichtig war. Im Nachhinein irritierte ihn dieser Gedanke. Er hatte sich Ellen gegenüber immer loyal verhalten, und er war mit dieser Situation absolut im Reinen, aber auf der anderen Seite war auch diese Tracy ein Produkt seiner Phantasie.
Ellen hatte zugehört, ohne ihn zu unterbrechen. Es war ihre Art auf die Menschen einzugehen, ihnen Raum zu geben, und sie diesen Raum auch selbst gestalten zu lassen. Gerne hätte sie Zwischenfragen gestellt, hob sie aber allesamt für später auf. Sie konzentrierte sich auf das Gesagte, versetzte sich in die Geschichte hinein, ohne die nötige Distanz zu verlieren. Die Fähigkeit eines intensiven und zugleich reflektierten Zuhörens war eine von Ellens Stärken. Das Zuhören war für sie kein passiver Akt, sie hospitierte förmlich, begleitete den Prozess. Sie ordnete, relativierte und ergänzte, wobei dieser Vorgang für den Erzählenden zunächst unsichtbar im Hintergrund ablief. Er profitierte erst später davon, wenn man über die Ereignisse diskutierte, sie analysierte, ganz gleich, ob sie real waren oder fiktiv. Hierzu hatten sie sich in die Küche gesetzt. Ellen hatte einen Oolong aufgebrüht. Es war ein bisschen wie früher, als sie während ihrer Studienzeit oft in Ellens winziger Dachwohnung saßen, Tee tranken und redeten, zunächst über die Gegenwart, dann über die Vergangenheit und schließlich über die Zukunft.
- „So ausführlich, wie du es erzählt hast, könnte man meinen, das alles sei wirklich passiert.“
- „Ellen, das ist alles so präsent, so real. Ich habe nicht nur Erinnerungen an Bilder, sondern an Geräusche, Stimmen, einfach alles. Woher kommt das?“
- „Und der Typ, mit dem ich in York verheiratet war? Sah der so aus wie Jean-Claude?“
Peter lachte. Ellen war, als er sie damals kennenlernte, mit einem jungen Franzosen befreundet. Wäre Peter nicht aufgekreuzt, wäre vermutlich mehr daraus geworden und Peter war anfangs ziemlich eifersüchtig, weil sich Ellen, auch als sie schon zusammen waren, noch regelmäßig mit ihm traf.
- „Nein, wahrlich nicht. Der war anders. Jean-Claude war ein Intellektueller. Hatte der nicht Kunstgeschichte studiert?“
- „Kommunikationswissenschaften!“
- „Sag ich doch! Dieser Gary war ein perfekter Familienmensch …“
- „So wie du!“
Peter verzog gequält das Gesicht. Ellen küsste ihn auf die Nase.
- „Nein, das Ganze war so eine ländliche Idylle, gelebte Sorglosigkeit, verstehst du? Sichere Jobs, solide Häuser mit Garten, zwei Autos und alles mitten in der tiefsten Provinz Pennsylvanias, Quäkerland, alles klar?“
Ellen spielte die Gekränkte.
- „So, da siehst du mich also. Sag mal, hast du noch alle Tassen im Schrank?“
Peter war nicht zum Scherzen.
- „Ich hoffe es, Ellen.“
Ellen verstand und schwenkte sofort wieder ein.
- „Ich weiß nicht, wofür das steht. Aber ich denke, es ist die Angst davor, dass unser kleines Boot Schiffbruch erleidet. Du hast die Erfahrungen machen müssen, dass es mich und Irene nicht gab und dann hast du zwanghaft versucht, mich doch wieder in deine Geschichte hineinzuholen. Daraus wurde dann aber nur eine Alternative des Verlustes. Auch zu Luthers Tod hast du ein anderes Szenario entworfen. Dieser Mr. Dick und Mason und dieser Marty, das waren alles Randfiguren …“
- „Ellen …“, Peter zögerte kurz, bevor er weitersprach. „Es gibt in Cincinnati einen Psychologen namens Marty Chambers.“
- „Was sagst du da?“
- „Ich wollte dich mit all dem nicht belasten.“
- „Es ist gut, dass du es erzählt hast. Aber Peter, du weißt auch, dass du das alles nicht wirklich erlebt hast.“
Sie betonte das Wort „nicht“ mit besonderem Nachdruck, so als setze sie ein
Weitere Kostenlose Bücher