Mount Maroon
noch dazu in einer viel zu kleinen Größe. Also wiederholte er die Aktion mehrere Male, bis eine ausreichende Auswahl hergestellt war. Wie in einem kleinen Kaufhaus lagen nun Jacken, Hemden, Hosen und Schuhe über die Bänke verteilt. Selbst Unterwäsche und Socken waren vorhanden, dazu Brieftaschen, Portemonnaies und Autoschlüssel. Bartlett war kein Dieb, aber in Anbetracht seiner undurchsichtigen Lage galten besondere Regeln. Eine Viertelstunde später bog er mit einem grünen Buick älteren Baujahrs auf die Talstraße ein. Er fühlte sich wie neugeboren, duftete nach Limone, trug ein großkariertes Hemd, Bluejeans, ausgelatschte Cowboystiefel und eine schicke Sonnenbrille, verfügte über einen Pass, einen Führerschein, die Zulassung für das Auto und knapp 500 Dollar in bar. Sicher würde er den Wagen nicht lange benutzen können. Spätestens zum nächsten Schichtwechsel würde sein Coup auffliegen, aber in der nächsten größeren Stadt konnte er sich unter falschem Namen einen Wagen mieten. Das würde funktionieren. Interessant war jetzt aber erst einmal, wie die nächste Stadt überhaupt hieß, wusste er doch noch immer nicht, wo er eigentlich war.
33. GESPRÄCH MIT ELLEN
Ellen war ernsthaft besorgt. Sie hatte Peter noch nie so lethargisch erlebt. Der Mann, in den sie auch nach ihrer nun schon fast elfjährigen Ehe noch genauso verliebt war wie zu Anfang ihrer Beziehung, ließ sich hängen. Er wirkte verwirrt, fahrig, war unaufmerksam. Er war sonst immer derjenige, der morgens als Erster aufstand. Sogar im Winter joggte er dreimal in der Woche vor dem gemeinsamen Frühstück, das er zubereitete. Und damit war ein richtiges Frühstück gemeint mit Kaffee, Tee, gebratenen Eiern mit Speck, Müsli mit frischem Obst und aufgebackenen Brötchen. Während Ellen und Irene den Tag eher gemächlich anzugehen pflegten, saß ihnen ein frisch geduschter, rasierter und zumeist bestens gelaunter Peter gegenüber. Besonders die hellen, warmen Sommermorgen waren es, die ihn sehr früh aus dem Bett trieben. Wenn er nicht lief, setzte er sich mit einem Kaffee auf den östlichen Balkon der Wohnung, von dem aus man die Chesapeake Bay sehen konnte, und las, bevor er gegen halb neun ins Büro ging. Die Sommerabende gefielen Ellen und Peter gleichermaßen. Dann saßen sie oft zusammen auf dem westlichen Balkon und beobachteten den Sonnenuntergang, tranken europäischen Wein und unterhielten sich über die unterschiedlichsten Dinge. Ihre philosophischen Plaudereien, wie Ellen es nannte. Zwei- bis dreimal in der Woche hatten sie abends Gäste oder waren ihrerseits bei Freunden in der Nachbarschaft eingeladen. Man kochte gemeinsam, genoss das Essen, redete oder spielte.
Doch seit Ellen und Irene Peter vor fünf Tagen vom Mount Maroon abgeholt hatten, war er wie ausgewechselt. Er sagte Einladungen ab, wollte selbst niemanden in der Wohnung haben und ging nur selten vor die Tür. Die meiste Zeit saß er nur in einem Sessel, ohne ein Buch oder eine Zeitung, ohne Musik zu hören und was das Schlimmste war, ohne das geringste Bedürfnis nach Ansprache. Fragte man ihn, was er mache, sagte er, er denke nach. Aber er sagte es auf eine derart mürrische Weise, dass man es nicht wagte, eine weitere Frage anzuschließen, die auf den Inhalt seiner Gedanken zielte. Natürlich war Ellen klar, dass Peters Verhalten mit dem Tod seines besten Freundes zu tun hatte, aber dass sie nicht miteinander darüber sprachen, war neu. Selbst nach dem Tod seines Onkels vor einigen Jahren, der Peter schwer mitgenommen hatte, zog er sich nicht derart zurück. Im Gegenteil, er suchte den Kontakt zu Freunden und Bekannten und vor allem zu Ellen. Es war so als wolle und könne er damit nicht allein sein. Ungewöhnlich war auch, dass sie seit Peters Rückkehr erst einmal Sex hatten. Wenn sie sonst für einige Tage getrennt waren, war das Verlangen besonders groß. Auch seine Arbeit interessierte Peter nicht. Er war gestern, als er eigentlich wieder hätte anfangen sollen, einfach nicht hingegangen. Ellen hatte schließlich seinen Kollegen angerufen und Peter krank gemeldet. Krank, irgendwie war er das auch. Wie lang sollte Ellen dabei noch zusehen? Wie schlimm würde die Situation werden und wie nachhaltig die Probleme, die daraus resultierten?
Auch an diesem Morgen war Peter nicht aufgestanden. Es war der Tag der Jugendschwimmwettkämpfe von Annapolis und Irene startete in der Gruppe der unter Zehnjährigen mit guten Chancen auf eine Platzierung unter den
Weitere Kostenlose Bücher