Mount Maroon
den schnurgeraden Highway. Ellen war bereits vier Stunden gefahren, seitdem sie Annapolis verlassen hatten. Und auch nach der kurzen Pause hatten sie die Plätze nicht gewechselt, wie es sonst ihre Gewohnheit war. Irene las ein zweifellos sehr spannendes Buch, denn sie schenkte ihren Eltern nicht die geringste Aufmerksamkeit und auf Ansprache reagierte sie mit unartikulierten, aber äußerst aussagekräftigen Lauten. Offensichtlich wollte sie sich ihrer Phantasiewelt nicht durch irgendeine profane Lappalie entreißen lassen. Peter hingegen wäre froh gewesen, wenn seine wahnhaften Vorstellungen vom Mount Maroon, von Gedächtnisstörungen und Nicht-Existenz sich durch das Zuschlagen eines Buchdeckels hätten auflösen lassen.
Sein zweitägiger Aufenthalt in Cincinnati hatte keine neuen Erkenntnisse gebracht, aber was hatte er auch erwartet. Möglicherweise war es ja wirklich so, wie Marty es erklärt hatte. Ja, ja, der gute Marty. Wie viele Chancen sollte er ihm noch geben. Dreimal hatte er ihm gegenüber gesessen und dreimal war sein Auftritt über die Maßen beeindruckend, dreimal hatte er ihn mit seinen Argumenten, seinem Wissen und seiner sympathischen Art eingefangen, auch wenn die Diagnose jedes Mal eine andere war. Ob eine leichte, partielle Gedächtnisschwäche, eine schwere, umfassende Gedächtnisstörung oder ein akutes Abwehrtrauma, alles hörte sich so einleuchtend an. Immer war es so, als gäbe es nur diese eine Möglichkeit, nur eine logische Erklärung für das, was dem davon Betroffenen wie ein Untergang seiner selbst vorkam. Ein dunkles Loch in der eigenen Biographie, in dem, was einem am meisten vertraut erschien. Schon das Telefonat mit dem Psychologen war eine Enttäuschung. Er konnte sich nicht an einen Peter Saunders erinnern, wobei Peter in gewisser Weise auch froh darüber war. Dieses Leben mit Ellen und Irene war ihm bedeutend lieber als alles, was er in dem – wie Marty es ausdrückte – vorübergehenden Zustand hypnagoger Wahrnehmung durchgemacht hatte. Sie hatten einen Termin vereinbart und Peter war drei Tage später nach Cincinnati geflogen. Alles war genau wie in seiner Vorstellung, das Krankenhaus, der Gang, Martys Büro, nur an Stelle des Rothko hing eine Lithographie von Chagall. Als Peter Platz genommen hatte, stieg Angst in ihm auf. Was, wenn es jetzt wieder anders wäre? Was, wenn Marty ihn durch einen Trick wieder einkassiert hätte? Er wieder hier wäre und Ellen und Irene nicht existierten; was, wenn er sich das nur eingebildet hatte? Marty erkannte ihn auch jetzt nicht, als er ihm gegenübersaß. Aber vielleicht gehörte auch das zu dem perfiden Spiel. Manchmal verhielt man sich so, als ob man ihn kenne und ein anderes Mal behandelte man ihn wie einen Fremden. Das treibt jeden in den Wahnsinn. Aber wie konnte es sein, dass dabei alle mitmachten: Ellen, Luther, Tante Polly. Nein, nicht Polly, das konnte nicht sein. Sie hätte sich ganz sicher verraten. Sie war keine Schauspielerin. Peter erinnerte sich daran, dass sie einmal bei einer Theateraufführung der Landfrauengruppe von Raleigh mitgemacht hatte. Sie konnte vor Lachen kaum einen einzigen Satz sagen und wäre dabei fast von der Bühne gefallen. Trotzdem griff Peter, nachdem er mit Marty eine Weile in der Sitzgruppe saß, nach seinem Handy und rief Ellen an. Sie sprach mit ihm und war in dem gleichen Maße hörbar besorgt, wie Peter erleichtert war.
Was sollte er ihr jetzt über sein Gespräch mit Marty Chambers sagen? Ganz zum Schluss hatte er ihm von seinem Dreitage-Bart erzählt, den er am Morgen in der Rangerstation ertastete, obwohl er sich am Tag zuvor rasiert hatte. Aber Marty hatte auch dafür eine Erklärung. Stress! Stress produziert Adrenalin und das wiederum sorgt für die Ausschüttung von Testosteron und Wachstumshormonen. Und Stress hatte er bei dem Gewittersturm mehr als genug. Unterm Strich war es wohl der Ratschlag des Psychologen – Urlaub zu nehmen und möglichst viel Zeit mit seiner Familie zu verbringen –, der sich als heilsam erweisen könnte. Sie wollten ein paar Tage in Raleigh verbringen. Die ländliche Stille, der gute selbst gemachte Kuchen, die Gartenarbeit und das ein oder andere Barbecue mit alten Freunden würden Peter gut tun. Und auch die Begegnung mit seiner Tante würde ihm Sicherheit geben, meinte Marty.
Der eigentliche Grund der Fahrt war hingegen alles andere als angenehm. Gleich morgen würden sie seinen besten Freund zu Grabe tragen. Das Begräbnis hatte sich verzögert, weil
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