Mount Maroon
Luther verfügt hatte, seinen toten Körper für medizinische Zwecke untersuchen zu lassen und auch etwaigen Organentnahmen ausdrücklich zugestimmt hatte. Dann musste er noch überführt werden. Luthers Eltern hatten sich um alles gekümmert. Wer hätte es auch sonst tun sollen? Luther hatte keine eigene Familie und Atlanta war nur ein Ort für ihn, eine Durchgangsstation. Dort würde sich niemand um sein Grab kümmern. Die Mädchen, mit denen er ausging, taugten nicht zu trauernden Witwen, auch wenn man ihnen nicht jede Anteilnahme oder echte Traurigkeit absprechen konnte. Am Ende war Luther ein Einzelgänger und sein Grab würde, wenn es sich außerhalb von Raleigh befände, das eines Namenlosen sein, an dessen Fußende niemand stehen bliebe und über das sich keine zitternde Hand senkte, um welke Blätter zu entfernen. Hier, wo er aufgewachsen war, würde man ihn noch einige Zeit im Gedächtnis behalten, als einen, der es geschafft hatte, Raleigh den Rücken zu kehren, der in die Welt hinausgezogen war und nun heimkam. Er würde auf dem gleichen Friedhof begraben werden, auf dem Peters Eltern lagen, deren Grab er in Peters Traum erst kürzlich ausgehoben hatte. Für Marty war gerade diese Aktion ein eindeutiges Anzeichen für die Korrektheit seiner Interpretation. Im übertragenen Sinne hatten die beiden Freunde Luthers Grab geschaufelt. Sie nahmen die Bestattung sinnbildlich vorweg. Auch Luthers doppelter Tod, im Traum und in der Realität, passte hervorragend zu dieser Erklärung. Der Tod und dessen Verarbeitung hätte, so Marty, in Träumen eine sehr große Bedeutung. Das Unterbewusstsein arbeitet Stress auslösende Situationen im Schlaf auf. Manchmal finden diese Prozesse oder auch nur Teile davon einen Weg ins Bewusstsein und wir erinnern uns daran, wenngleich wir meistens wissen, dass es sich um einen Traum handelte. Peter wusste es nicht. Beide Szenarien waren in seinem Kopf gleichermaßen präsent, gleichermaßen realistisch.
- „Der Blitz auf dem Berg. Es hätte auch mich treffen können.“
Peter sprach leise, fast so, als sage er es zu sich selbst, ein lautes Denken, als wolle er dem Gedanken eine Stimme geben und ihn dadurch in der Welt manifestieren, hörbar und damit teilbar machen. Ellen schossen Tränen in die Augen. Sie war nicht in der Lage zu sprechen, wollte ihrerseits den Gedanken nicht zulassen, bekämpfte ihn durch ihr Schweigen. Wenn sie darauf nicht antwortete, so verlöre der Gedanke seine Anschlussfähigkeit und damit seine Präsenz in der Welt. Ein richtiges Gespräch kam auf der gesamten Fahrt nicht zustande, obschon es weder an Mitteilungsbedarf auf der einen noch an einer grundsätzlichen Bereitschaft zuzuhören auf der anderen Seite mangelte.
Gegen Mittag erreichten sie Raleigh. Tante Mary, die es gewohnt war, von allen Menschen aus Peters Generation Polly genannt zu werden, hatte gleich zwei Kuchen gebacken. Neben Peters Lieblingsbackwerk, einer Schokoladen-Nuss-Torte, stand eine Erdbeer-Rhabarber-Biskuit-Rolle, welche Ellen und Irene bevorzugten, auf dem gedeckten Tisch. Nach einem kurzen Austausch über die Autofahrt, das schwülwarme Wetter, Pollys Gesundheit und Rooster sprach man ausführlich über Luthers tragischen Tod. Peter betrachtete jede Einzelheit der Umgebung, als sähe er sie zum ersten Mal. Wieder saß man auf der Veranda. Fast alles schien so zu sein, wie bei seinem Besuch mit Mason, jedoch fehlte der rote Pick-up.
- „Peter denkt zur Zeit wieder sehr viel an den Tod seiner Eltern.“
- „Oh, das glaube ich, wenn man so unvermittelt mit der Endlichkeit des Lebens konfrontiert wird.“
- „Wie war das damals, Polly? Ich meine am Tage des Unfalls?“, fragte Peter.
Für ihn war es wie ein Déjà-vu-Erlebnis. Doch diesmal deckte sich ihre Antwort mit seinen Erinnerungen. Pollys Augen blickten nach oben, sie überlegte, während sie mit der Kuchengabel kleine Löcher in die Luft stach.
- „Das Krankenhaus in Harrisburg hat angerufen. Die Ambulanz hatte dich dahin gebracht, weil sie nicht wussten, ob etwas gebrochen war. Wir sind dann sofort dahin gefahren. Erst dort hat man uns erzählt, dass deine Eltern den Unfall nicht überlebt hatten.“
- „Und dieser alte Mann hat mich gerettet?“, hakte Peter nach, der die Geschichte natürlich kannte.
- „Ja, er hat die Scheibe eingeschlagen und dich aus dem Wagen gezogen.“
- „Hast du mit ihm gesprochen? Wie sah er aus?“
- „Oh, wir haben ihn gar nicht gesehen. Ich kenne nicht mal seinen Namen. Als
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