Mozarts letzte Arie
tragisches Ende hat uns alle auf unterschiedliche Weise betroffen», sagte er. «Verstehen Sie?»
Ich neigte den Kopf.
Schikaneder setzte mir den Teller vor. «Mahlzeit.
Bon appétit.
Leberknödel und Sauerkraut», sagte er. «Wolfgangs Leibgericht.»
5
Ein schwindelerregender Strom aus Menschen und Tieren wälzte sich durch die Kärntner Straße, als ich in meiner Droschke von Schikaneders Theater zurückkehrte. Kutscher ratterten mit ihren Droschken durch halb gefrorenen Schneematsch, schrien den Passanten, die durch den zerfurchten Schmutz stolperten, etwas zu – so ganz anders als die Stille in meinem Dorf.
Wir erreichten den Stephansplatz. Die niederen Stände des Vielvölkerstaats wimmelten durch die Reichshauptstadt und zwangen die Kutschen, im Schritttempo zu fahren. Menschen aus allen Teilen des Reichs gingen am Fenster meiner Droschke vorüber. Serben zwirbelten ihre Schnurrbärte. Griechen mit langen Pfeifen, deren Köpfe im Zwielicht glühten. Zwei Juden mit schwarzen Bärten und langen Schläfenlocken, deren dunkle Anzüge um magere Schultern schlotterten, sprachen etwas, das wie Polnisch klang. Aus dem Mund eines Mannes in einem schmutzigen Schaffellmantel hörte ich Ungarisch, und die Sprache Böhmens von einem blonden Jüngling, der sich ein Messer in den Schaft eines seiner hohen Lederstiefel schob.
Es war schon lange her, dass ich solch ein lebendiges und fremdes Schauspiel erlebt hatte, und es war das erste Mal überhaupt, dass ich allein in einer Stadt war. Ich war vorsichtig und zugleich aufgeregt, ganz wie ein Abenteurer, der in einem fremden Kontinent ins Herz einer verbotenen Zivilisation vordringt.
Die Kutsche fuhr durch den breiten Graben. Unter all dem Fremden erkannte ich einen Ort wieder. Ich ließ den Kutscher halten, kletterte auf die Straße hinaus und entließ ihn. Neben der großen Kirche am Platz Am Hof erstrahlte das Collaltopalais im Licht seiner Eingangslampen. In der Reichshauptstadt hatte ich hier als Elfjährige mein Debüt gegeben. An jenem Abend war mein Bruder die Attraktion gewesen. Obwohl erst sechs Jahre alt, hatte er sogar dann noch fehlerfrei gespielt, als die Tastatur mit einem Tuch abgedeckt wurde. Der Graf von Collalto schrieb ein Gedicht auf Wolfgang, in dem es hieß, dass er, obwohl «klein an Statur, spielte wie die Größten». Es war eine beispiellose Talentprobe, die wir erfolgreich bestanden. Bald darauf erreichte uns die Einladung, vor der Kaiserin in Schönbrunn zu spielen.
Ich stand an der Ecke des Palais’ und blickte zu den Reliefsäulen der ansonsten schlichten Fassade hinauf. Vor dreißig Jahren war ich durch die schweren Türen aus Kastanienholz mit so vielen Träumen eingetreten. Ich war in Begleitung meines Vaters, meiner Mutter und meines Bruders gewesen. So endgültig wie meine Ruhmeshoffnungen als Musikerin waren auch sie von mir gegangen. Im Gedicht des Grafen war die Sorge zum Ausdruck gekommen, dass Wolfgang so zart sei, dass ihm sein Körper «nur allzu bald» abhandenkommen könne. Meine Familie hatte diese Vorahnung ignoriert. Wir lasen lediglich die lobenden Zeilen des Gedichts und waren entzückt über das Entree zur Wiener Gesellschaft, das Collalto uns damit verschaffte.
Zu Hause, wo ich mit meinen Kindern zufrieden war, hätte ich vielleicht gesagt, dass der Wunsch nach Ruhm einzig meines Vaters Ambition gewesen und auf mich übertragen worden sei, bis ich sie für meine eigene hielt, die mir dann während der bitteren Jahre, in denen ich ihn in Salzburg pflegte,abhandenkam. Doch als ich vor dem majestätischen Collaltopalais stand und überlegte, welches Fenster zu dem Raum gehörte, in dem ich aufgetreten war, ging mir Wien wieder ins Blut. Die Fantasien des kleinen Mädchens wurden wieder lebendig, des Mädchens, das unter dem Beifall der adligen Kenner geknickst hatte und errötet war, während sein Vater die Schmuckstücke einsammelte, die als Honorar vergeben wurden.
Ich fragte mich, ob ich heute mit solchem Beifall anders umgehen würde. Im Schein der Palaislampen begriff ich, dass während der längsten Zeit meines Lebens meine Reaktionen auf Menschen und Orte so hohl gewesen waren wie ein Musiker, der dank makelloser Technik Sensationen hervorkitzelt. Vielleicht war das das unvermeidliche Ergebnis meiner Auftritte als Kind. Bevor ich selbst alt genug war, derlei Gefühle zu empfinden, hatte ich Musik gespielt, die voller romantischer Zärtlichkeit und leidenschaftlicher Raserei war. Als ich dann in der
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