Mr. Joenes wundersame Reise
ziemlich fades Mahl aus Milch, Käse, hartem Brot und Früchten ein. Dann führte man ihn zum Hai-erogu, oder dem Ort der Huldigung. Dort befand sich eine Lichtung im Wald, wo die Menschen am Tag die Sonne und nachts den Mond anbeteten.
»Religion war ziemlich problematisch«, flüsterte Harris Joenes zu, als die Menge der Betenden sich im fahlen Mondlicht zu Boden warf. »Wir wollten nichts einführen, was irgendwie mit der jüdisch-christlichen Tradition in Verbindung stand. Auch wollten wir keinen Hindhuismus oder Buddhis-mus einführen. Tatsächlich erschien uns nach eingehender Analyse keine der bekannten Religionen geeignet. Einige in unserem Kreis wollten als Kompromiß die Gottheiten der T‘iele aus dem südöstlichen Zanzibar zur Grundlage der chorowaitischen Religion machen; andere waren für den Alten Mann Davaghna, der von einer obskuren Sekte der Schwarzen Thai verehrt wird. Doch am Ende kamen wir überein, einfach die Sonne und den Mond zu Göttern zu erheben. Einerseits gab es da ein-150
deutige historische Vorbilder; zum anderen konnten wir diese Religion den wichtigen Leuten in der Regierung des Staates New York als eine Form des primitiven Christentums anbieten.«
»War das denn so wichtig?« wollte Joenes wissen.
»Und wie! Sie glauben ja gar nicht, wie schwierig es ist, die Erlaubnis zu bekommen, ein solches Experiment durchzuführen. Außerdem mußten wir nachweisen, daß wir ohne Gewinn zu arbeiten ge-dachten. Dabei kam es zu gewissen Schwierigkeiten, da alles, was Sie hier sehen, der Gemeinschaft insgesamt gehört. Glücklicherweise unterrichtete damals Gregorias in Logik, und ihm gelang es, die Verwaltungshengste zu überzeugen.«
Die Betenden schwankten hin und her und stöhnten. Ein alter Mann trat vor, das Gesicht mit gelbem Lehm beschmiert, und begann auf Chorowaitisch einen rituellen Gesang.
»Was sagt er?« fragte Joenes.
Hanley nickte. »Er intoniert ein besonders hübsches Gebet, das Geoffrard aus einem pindarischen Gesang entnommen hat. Es lautet: Mond, der du voller Tugend bist, verhüllt im zarten Gespinst der Nacht,
Der du dahinschwebst leichten Fußes über den Wipfeln deines Volkes
Der du hinter der Akropolis‘ Wölbung Schutz suchst vor deines Buhlen Sonne sengender Kraft, 151
Der du des Parthenon Marmor netzt mit deiner Finger Tau,
Für dich singen wir dies Lied
Erbitten uns mit liebender Gebärde, daß du uns bewahrst
Vor des Dunkels Schrecken
Und uns schützest diese eine winz‘ge Nacht Vor der Bestie unser aller Welt.
»Das ist wirklich sehr hübsch«, mußte Joenes zugeben. »Was bedeuten die Zeilen mit der Akropolis und dem Parthenon?«
»Offen gesagt«, erwiderte Harris, »bin ich selbst nicht so ganz sicher, ob diese Passage wirklich hin-einpaßt. Aber die Klassik-Abteilung bestand darauf.
Und da bisher die wesentlichen Entscheidungen von der Wirtschaftswissenschaft, der Anthropologie, der Physik und der Chemie getroffen worden waren, ließen wir den Klassikern ihr Parthenon.
Abgesehen davon kann eine Gesellschaft nur bestehen, wenn sie zum Kompromiß fähig ist.«
Joenes nickte. »Und was bedeutet die Passage mit des Dunkels Schrecken und der Bestie unser aller Welt?«
Harris nickte und zwinkerte verschmitzt. »Angst ist lebensnotwendig«, meinte er.
*
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Joenes war für diese Nacht in einer Hütte untergebracht, die ohne einen einzigen Nagel zusammengefügt war. Sein Lager aus Tannenreisig war von einer reizvollen Ländlichkeit, zugleich aber auch ausgesprochen unbequem. Joenes schaffte es, eine Lage einzunehmen, die ihm kaum Schmerzen bereitete, und leicht einzudösen. Geweckt wurde er schließlich von einer Hand, die sich auf seine Schulter legte. Als er die Augen aufschlug, sah er eine überaus hübsche Frau, die sich mit einem sanften Lächeln über ihn beugte. Anfangs war Joenes ziemlich verlegen, weniger wegen sich selbst als vielmehr wegen der Frau, die sich offensichtlich in der Hütte vertan hatte. Doch sie bewies ihm sofort, daß sie sich nicht geirrt hatte.
»Ich bin Laka«, stellte sie sich vor. »Ich bin die Frau von Kor, dem Führer des Sonnenvereins unserer Jugendlichen. Ich bin gekommen, um heute nacht mit Ihnen zu schlafen, Joenes, und ich werde alles in meinen Kräften Stehende tun, um Sie in Chorowait willkommen zu heißen.«
»Vielen Dank«, brachte Joenes mit Mühe und Not über die Lippen, »aber weiß Ihr Mann denn, was Sie hier tun?«
»Was mein Mann weiß oder nicht weiß, ist im Augenblick ziemlich unwesentlich«,
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