Mr. Peregrines Geheimnis: Roman (German Edition)
der anderen Seite sehen, aber …«
»Aber deine Tante nicht.« Mr. Peregrine nickte. »Damit ist die Sache wohl klar. Der Spiegel hat genau so funktioniert, wie er soll. Du, mein junger Freund, bist ein Schielauge.«
»Aber wie kann das sein? Warum? Habe ich das etwa von meinen Eltern geerbt?«
Mr. Peregrine hörte die Hoffnung, die in dieser Frage lag, und musterte Darwen so scharf, dass er errötete und zu Boden sah.
»Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß es nicht. Allerdings habe ich noch nie davon gehört, dass die Gabe von Mutter oder Vater an die Kinder weitergegeben wurde.«
Darwen ließ sich langsam auf einen Stuhl sinken und starrte auf die staubige Oberfläche des Ladentischs.
»O Darwen«, sagte Mr. Peregrine und zog ein rechteckiges Stück Papier und eine Feder hervor, die sogar noch altmodischer aussah als Darwens Füllfederhalter. »Wenn du einige der Wunder sehen könntest, die es auf der anderen Seite gibt, würdest du gar nicht mehr in diese Welt zurückkehren wollen.«
Darwen hob den Kopf, und eine Reihe widerstreitender Gefühle überwältigten ihn – Angst und Hoffnung, Stolz und Aufregung. Die Vorstellung, aus dieser Welt in eine andere zu treten, die Hillside Academy und sein einsames Dasein für immer hinter sich zu lassen, und in einem Land jenseits der Spiegel zu leben …
Mr. Peregrine lächelte, tauchte die Feder ins Tintenfass und schrieb in dünner Spinnenschrift eine Notiz. Als er fertig war, rollte er das Blatt zusammen, steckte es in einen zylinderförmigen Behälter aus Messing, der extra für diesen Zweck gemacht zu sein schien, und schraubte ihn mit einem Deckel zu. Dann öffnete er eine kleine verwitterte Holzklappe in der Wand hinter der Kasse, schob eine gebogene Metallplatte beiseite und platzierte den Zylinder im Hohlraum dahinter. Er schloss die Klappe, zog ein paarmal an einem Hebel, stellte eine Wählscheibe ein und drückte auf einen Knopf. Hinter den Ritzen der Holzklappe war kurz ein blauer Blitz zu sehen, und ein sanftes Popp und Wusch ertönten, dann war es wieder ruhig. Mr. Peregrine öffnete die Klappe erneut und sah prüfend hinein. Von dem Behälter war nichts mehr zu sehen.
»Aber … hören Sie doch«, platzte Darwen jetzt heraus, der sich nicht ablenken lassen wollte. »Die Schrubbler werden Motte wehtun!«
Der Alte fuhr herum.
»Wo hast du diesen Ausdruck gehört?« Er klang plötzlich ganz anders: drängend, ja, sogar alarmiert.
»Schrubbler?«, fragte Darwen.
»Ja. Wo um alles in der Welt hast du das gehört?«
»Sie hat es gesagt. Motte.«
»Motte?«
»Sie ist eine Talfee«, flüsterte Darwen. »Sie hat mich vor den Schrubblern gewarnt, kurz bevor sie durch das Tor kamen.«
»Du willst damit sagen«, erkundigte sich der Ladenbesitzer, der nun klang, als bliebe er nur mit Mühe ruhig und gelassen, »dass du durch den Spiegel gegangen bist? Dass du in Silbrica warst?«
»Natürlich«, sagte Darwen, als sei das ganz offensichtlich. »Zweimal. Und beim letzten Mal kamen die Schrubbler und haben mich gejagt, und ich habe es nur gerade eben wieder zurück in den Spiegel geschafft …«
»Du konntest durch diesen kleinen Spiegel steigen?«, fragte Mr. Peregrine. »Das hatte ich nicht vermutet. Eigentlich glaubte ich, er sei zu klein. Ich dachte, deine Schultern wären …« Er betrachtete Darwen mit kritischem Blick. »Aber wie ich sehe, habe ich das falsch berechnet.«
»Wahrscheinlich«, sagte Darwen ein wenig beleidigt. Zwar hatte er in den letzten Wochen ein wenig abgenommen, aber deswegen war er ja nicht gleich auf Rattengröße geschrumpft.
»Aber das ist ja ganz außergewöhnlich!«, rief Mr. Peregrine. »Du musst mir alles von deinem Abenteuer erzählen, schnell!«
»Sie müssen Motte helfen«, verlangte Darwen hartnäckig.
»Sag mir erst, was passiert ist«, sagte der Ladenbesitzer.
Und so erzählte Darwen alles, von Anfang bis Ende. Mr. Peregrine war ein ideales Publikum. Er hielt an den richtigen Stellen den Atem an, und am Schluss lachte er und klatschte vor Begeisterung in die Hände.
»Ein echtes Schielauge – pardon, ein Spiegelokulist!«, rief er. »Und das hier, in meinem Geschäft!«
»Ich wurde beinahe von einem riesigen Motorrad plattgemacht und von einem Schrubbler mit einem Netz erwischt«, protestierte Darwen.
»Ja, das ist natürlich sehr unglücklich«, sagte der Ladenbesitzer, obwohl er trotzdem weiterhin beseelt lächelte. »Schrecklich. Wirklich, wirklich sehr schlimm. Ich muss mich in aller Form bei dir
Weitere Kostenlose Bücher