Mr. Postman
tot.«
Gordy hatte mit einer schon erschreckenden Inbrunst gesprochen. Mir war klar, dass er alles tun würde, um immer bei seinem Bruder bleiben zu können.
»Ich kann ihn sehen. Ich kann ihn jederzeit abrufen, wenn er nicht selbst bei mir ist. So wie in der Nacht, denn die Nacht ist seine Zeit. Tagsüber nahm ich ihn bei mir auf. Manson wohnt ja nicht mehr hier. Hier lebt jetzt Nosnam. Es ist auch nicht aufgefallen, dass ein Zwilling die Wohnung übernommen hat. Es gibt genügend Perücken und andere Dinge, um sich zu verwandeln. Und gesehen hat uns auch noch niemand. Wir stehen erst am Anfang, wissen Sie?«
»Ja, ich habe begriffen. Aber ich frage mich, was Cassius wirklich will?«
»Was er will?« Gordy fuhr zurück. »Das kann ich Ihnen sagen, verdammt noch mal. Er will endlich die alte Ordnung wiederherstellen. Er will die Frauen bestrafen, und er wird sie bestrafen!«
Ich schüttelte den Kopf. »Bestrafen? Für was denn bestrafen, bitte schön? Dass sie gelebt haben? Dass sie ihren eigenen Weg gegangen sind, der den moralischen Vorstellungen Ihres Bruders nicht entsprach? Sollten sie deshalb sterben?«
»Ja.«
»Ist er Richter? Ist er Henker? Er, der mit dem Teufel einen Pakt geschlossen hat?«
»Cassius sieht es so.«
»Und tötet!«
»Richtig.« Manson holte tief Atem. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass die Nacht seine Zeit ist. In der Dunkelheit ist er unterwegs. Das ist für ihn günstig. Sie haben ihn ja erleben können, denn auch jetzt ist er wieder auf Tour.«
»Das denke ich.« Innerlich blieb ich ruhig, und auch meine Stimme hatte sich nicht verändert, aber ich stand bereits auf dem Sprung. So schön es war, Aufklärung erhalten zu haben, es hatte mich gleichzeitig Zeit gekostet. Zeit, die einer anderen Person das Leben nehmen konnte.
Gordy hob die Schultern. »So ist das nun mal, Mr. Sinclair.« Er deutete auf den Bildschirm. »Jetzt wissen Sie alles.«
Die Bewegung hatte mich etwas abgelenkt. Mein Blick folgte der ausgestreckten Hand automatisch, und darauf hatte Gordy nur gewartet.
Bevor ich mich versah, hielt er eine Waffe in der Hand. Er hatte sie blitzschnell gezogen, zielte damit auf mich und lachte. Dann sagte er:
»Mein Bruder wird wieder töten, Sinclair. Und damit er das kann, werde ich Sie hier in meiner Wohnung erschießen…«
***
»Was hat er denn gesagt?« fragte Lilian Evans. Sie hatte sich wieder umgezogen und trug jetzt eine schwarze Samthose und ein beigefarbenes T-Shirt.
»John Sinclair, meinen Sie?« Glenda lächelte optimistisch. »Er ist am Ball, Lilian, das kann ich Ihnen versprechen. Er wird sich so leicht nicht in die Suppe spucken lassen.«
»Heißt das, dass er dem Killer schon nahe auf der Spur ist?«
»Ja, das hoffe ich.«
»Und wo sucht er nach ihm?«
»In einem Haus. Es steht nicht einmal weit entfernt von hier. Ich kann mir vorstellen, dass noch in dieser Nacht eine Entscheidung fällt. Irgendwie will ich nicht glauben, dass John den kürzeren zieht. Er war sogar auf dem Friedhof und hat sich das Grab des Cassius Manson angeschaut.«
Lilian Evans bekam große Augen. »Was sagen Sie da, Glenda? Auf dem Friedhof?«
»Warum nicht?«
»Da hätte ich Angst.«
»Kann ich verstehen. Das ist auch nicht jedermanns Sache. Aber John ist daran gewöhnt.«
Die beiden Frauen hatten den Raum gewechselt. Sie saßen jetzt im Wohnzimmer, zu dem auch ein Erker gehörte mit bis nach unten gezogenen Scheiben. Der große Raum war nicht überladen mit modernen Möbeln eingerichtet. Möbelstücke ohne Verzierungen. Schlicht, beinahe schon reduziert, auf das Wesentliche beschränkt, aber es war alles da, was vorhanden sein musste.
Die zwei Frauen saßen sich gegenüber. Sowohl Glenda als auch Lilian konnten von ihrer Position aus das Fenster im Erker beobachten. Ihr Blick glitt nach draußen, bis hin zur Straße, die eingetaucht in der nächtlichen Dunkelheit lag und nur dort erhellt wurde, wo das Licht der Laternen schien. Die Bäume wirkten wie Schatteninseln, in denen sich Ungeheuer verbergen konnten. Über der Gegend lag noch immer der Hauch einer tödlichen Gefahr, den Lilian Evans besonders spürte, denn sie schwitzte stark. Ihr Gesicht zeigte diesen öligen Film, der auch an ihren Händen klebte, die sie mehrmals gegeneinander rieb und damit gar nicht aufhören konnte. Sie hatte sich ein Glas Wein eingeschenkt. Hin und wieder trank sie in hastigen Schlucken und war einmal so nervös, dass ihr das Glas aus der Hand rutschte und am Boden landete. Es zerbrach
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