Mr. Shivers
Dinge erfahren? Dann greif nach einem Stück vom Herzen der Erde und nimm es in dich auf. Dann fragst du.«
Nina grinste noch immer und sah nun wie eine untersetzte, durchtriebene Schamanin aus, eine Priesterin, die Rituale durchführte, die weit abseits von den Augen der Männer geschahen. »Dann los, weißer Junge«, sagte sie. »Frag.«
Connelly musterte sie eine Weile und sagte: »Wer ist er? Mr. Shivers. Ihr kennt ihn. Wer ist er?«
Dexy lachte. »Bist du etwa den ganzen Weg gereist und weißt es nicht?«
»Je weiter ich komme, desto weniger begreife ich.«
»Du weißt es«, sagte Nina. »Mach dir nur nichts vor, kleiner weißer Junge. Jeder weiß, wer er ist. Du hast es die ganze Zeit gewusst.«
»Du bist die ganze Zeit in seinem Kielwasser gefahren. Sag mir, was hat er zurückgelassen?«, wollte Dexy wissen. »An jedem Ort, an dem er war und an den du kamst, was wartete dort? Warum taucht er in diesen verdorrten Zeiten hier auf?« Sie gluckste ärgerlich. »Junge, womit hat er dich und jede andere Seele, der er begegnete, gezeichnet?«
Connelly starrte ins Feuer und dachte nach. Dachte an Molly, die sang und tanzte. Dachte an Roonie und Jake und Ernie und jede andere Seele, die auf der Straße verloren gegangen war, dachte an die ausdruckslosen schwarzen Augen und das freudlose Grinsen.
»Er ist der Tod, richtig?«, fragte er dann.
»Der Tod«, schnaubte Nina. »Das ist nur ein Wort. Du könntest es genauso gut ins Meer oder in den Sand schreiben. Wer kann schon ein Nichts benennen?«
»Er hat tausend Namen, und jeder trifft es nur teilweise«, sagte Dexy.
»Er ist der Sensenmann, der die Ernte einbringt«, fuhr Nina fort.
»Er, der in der Nacht umherstreift und alles verschlingt.«
»Der Schädelmann, der Sternenschnitter, der Grinsende Knochentänzer.«
»Er ist der Schwarze Reiter, das große Tier, das hinter allem herhetzt.«
»Der heulende Fenriswolf, der Blinde Jäger, der Waldstreicher und der Verkünder des Endes.«
»Die rote Achse, der vergessene Sämann, der Zerstörer der Welten.«
»Der bleiche Eroberer, der kronlose König.«
»Aber der Tod?«, spottete Dexy. »Der Tod ist nur ein Begriff. Ihn als den Tod zu bezeichnen wäre so, als würde man die Nacht einen Schatten schimpfen. Er trägt eine schreckliche Waffe in den Händen, das Ding, das wir als das Nichts bezeichnen, und er schlägt damit zu wie mit einer Klinge. Sie schneidet alles, pflügt alles nach oben, dreht es um. Das ist, was er ist.«
»Aber das wusstest du schon, nicht wahr, Junge?«, fragte Nina. »Das wusstest du die ganze Zeit.«
Connelly dachte darüber nach. »Ja«, sagte er. »Ja, ich glaube schon.«
»Natürlich. Du bist langsam, aber du bist nicht dumm.«
Connelly schaute zu Boden und stellte die Schale ab. Dann blickte er lange ins Feuer.
»Kann ich ihn töten?«, fragte er.
Nina und Dexy schauten auf den leeren Sitz, dann hinauf in den Himmel.
»Den Tod zu töten«, sagte Nina. »Danach hungert der Mensch, seit er sich das erste Mal umsah und erkannte, wo er war.«
»Könnte der Tod ein so bedeutsames Wesen sein, dass er selbst sterben kann?«, fragte Dexy.
»Und sollte das geschehen, was würde dann passieren? Gäbe es noch mehr Tod? Mehr Leid? Vielleicht. Wer vermag das schon zu beantworten außer demjenigen, der den Tod von Tausenden, von Millionen sah, den Tod von allem?«
»Nun?«, fragte Connelly. »Ist es möglich?«
»Ja«, sagte Dexy. »Ja, er kann getötet werden. Aber es ist nicht einfach. Doch durch große Anstrengung und viele Opfer kann man es schaffen.«
»Ich habe schon eine Menge geopfert«, sagte Connelly. »Noch ein kleines bisschen mehr wird keine Rolle spielen. Aber kann er sterben?«
»Ja. Aber auch das wusstest du bereits, oder?«, fragte Nina. »Sonst würdest du ihn nicht jagen.«
»Ich schätze schon. Ich habe ihn voller Angst gesehen. Angst vor mir. Ich kenne den Grund nicht, aber … Er sah aus wie ein Mann, der wusste, dass er sterben kann.«
»Und das kann er auch«, sagte Nina. »Hör zu – er wird jetzt schwächer, vor der neuen Morgendämmerung. Er rennt, um sie zu verhindern. Er weiß, dass sie ihn zurücktreibt, ihn zur Strecke bringt, dem Alten ein Ende bereitet und das Neue erschafft. Er fürchtet die Morgendämmerung. Mehr als alles andere fürchtet er sie und die Geburt, die sie entstehen lässt.«
»Gut zu wissen«, sagte Connelly.
»Aber denk über deine Handlungen nach, weißer Junge«, sagte Nina. »Bedenke, was du tust. Warum du das
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