Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
davon abhielt, überzuschwappen und das, was von den ländlichen Gegenden noch übrig war, zu ersticken. Er versuchte, den Mut zu wahren, als er den Süden hinter sich gelassen hatte und die Autobahnen zu einem einzigen rasenden Fleck aus riesigen Lastern verschwammen. Sie alle fuhren Richtung Norden, als hätten sie noch Tausende von Kilometern vor sich und nicht Eistee, Tiefkühlhähnchen und Haushaltsgeräte, sondern Spenderorgane geladen. Im fluoreszierenden Licht und dem schwachen Bleichmittelgeruch einer Raststätte irgendwo in den Midlands, wo er auch nur einer von vielen grauhaarigen alten Männern mit einem Plastiktablett war, drohten ihn seine Zweifel zu besiegen.
Er hatte niemandem gesagt, dass er kommen würde. Was, wenn Mrs. Ali nicht zu Hause war? Fast hätte ihm Schottlands Sirenengesang von dem verheißenen Festmahl im Schloss und der Jagd in der Heide den Kopf verdreht, doch in dem Moment, als er den Daumen zu heftig durch den kleinen Plastikdeckel stieß und sein Jackett mit Kaffeesahne bespritzte, kam ihm der Gedanke, dass genau Mrs. Ali, sie und niemand sonst, die Welt ein bisschen weniger anonym machte. Sie machte
ihn
ein bisschen weniger anonym. Hastig trank er seinen Tee – was nicht schwerfiel, denn der war gerade einmal lauwarm – und eilte hinaus, um seine Fahrt fortzusetzen.
Ein wenig verlegen kurvte er durch die Gegend und suchte Straße und Hausnummer des Absenders auf dem Brief, den Grace ihm gegeben hatte. Immer wieder warf er einen Blick auf das dünne Papier und verglich die Angaben mit den Straßen, an denen er vorbeifuhr. Unter seinen Fingern auf dem Lenkrad wurde Mrs. Alis schöne Handschrift zusehends knittrig. Draußen waren jetzt vorwiegend dunkelhäutige Frauen mit Kindern und Babys in Kinderwagen zu sehen. Einige trugen Kopftuch, gebunden nach Art der praktizierenden Muslimas. Andere liefen mit den kurzen Steppjacken und Goldohrringen herum, die bei den Jugendlichen der ganzen Welt gerade in Mode waren. Als er eine Gruppe junger Männer passierte, die sich um die geöffnete Motorhaube eines Wagens drängte, glaubte er zu bemerken, dass sich ein paar Köpfe zu ihm drehten und ihn musterten. Er fuhr versehentlich an dem Haus vorbei, fand es aber zu peinlich, den ganzen Straßenzug noch einmal zu umrunden, und stellte den Wagen auf einem freien Parkplatz ab.
Die lange Straße wurde an einem Ende von mehreren großen, herrschaftlichen viktorianischen Häusern abgeriegelt, die einsam vor sich hin bröckelten. Am anderen Ende bildete eine Ziegelmauer die Abgrenzung zu einer Backsteinsiedlung mit sechsstöckigen Wohnblöcken und schmalen Reihenhäusern. Die Alu-Fensterrahmen und die schmucklosen Türen, für die genau drei Farben zur Auswahl gestanden hatten, zeugten von den gestalterischen wie auch finanziellen Grenzen der kommunalen Wohnungsbaubehörde. Zwischen diesen beiden, den Höhe- beziehungsweise Tiefpunkt des industriellen Zeitalters repräsentierenden Anlagen erstreckte sich eine lange Reihe von Doppelhäusern, die in der Vorkriegszeit für eine aufstrebende Mittelschicht errichtet worden waren: drei Schlafzimmer, zwei Wohnzimmer, Innentoilette und »täglicher« Putzdienst.
Einige dieser Häuser waren seit ihrer Glanzzeit stark erweitert worden und mit ihren doppelscheibigen Vinylfenstern, seitlichen Anbauten und verglasten Eingangstüren kaum mehr wiederzuerkennen. An den wenigen, die noch die alten Fensterrahmen aus Holz hatten, blätterte die Farbe ab, und das Durcheinander verschiedenster Fensterverdeckungen deutete darauf hin, dass sich dahinter Wohnschlafzimmer verbargen. Das Schlimmste aber, fand der Major, war, dass man die Vorgärten vieler dieser Häuser, gediegen oder nicht, gerodet und bepflastert hatte, damit direkt vor den Fenstern mehrere Autos parken konnten.
Das Haus der Familie Ali gehörte zu den eher ansehnlichen, und sogar die Hälfte des Gartens war noch erhalten. Die andere Seite war eine Kiesfläche, auf der ein kleiner, zweisitziger Sportwagen stand. Der elegante Eindruck, den der Wagen und die frisch lackierten weißen Fensterrahmen machten, wurde vom Nachbarhaus mit seinen springenden Delphinen auf den Torpfosten und den violetten Läden an den dunklen Holzfensterrahmen erheblich getrübt. Der Major gestattete sich gerade ein kurzes verächtliches Naserümpfen über diese so offensichtlich fremdländischen Auswüchse, als eine weiße Frau mit strähnigem Haar, einer pinkfarbenen Pelzjacke und grünen Jeans in schwarzen Lackstiefeln
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