Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
den Mann. »Ich finde es nur traurig, dass er so viel gearbeitet hat« – Dave zückte sein Taschentuch und fuhr sich damit noch einmal übers Gesicht – »und dann so früh von uns ging.«
»Das ist widerwärtig – selbst für deine Verhältnisse«, sagte Mrs. Ali leise. Schweigend, mit offenem Mund, sahen sich die drei an. »Sheena hat behauptet, du wärst in einer geschäftlichen Besprechung«, fügte sie hinzu.
»Sheena ist ein sehr vorsichtiges Mädchen«, sagte Mr. Ali, an den Major gewandt. »Sie will immer alle beschützen. Manchmal zwingt sie die Leute sogar, draußen vor dem Haus auf mich zu warten.«
»Grace wollte, dass ich Sie besuche«, sagte der Major zu Mrs. Ali. »Ich glaube, sie hat darauf gewartet, dass Sie ihr schreiben.«
»Aber ich habe ihr geschrieben, mehrmals sogar. Offenbar bin ich zu Recht ins Grübeln gekommen, als ich nie Antwort bekam.« Sie warf ihrem Schwager einen leicht verächtlichen Blick zu. »Findest du das nicht auch merkwürdig, Dawid?«
»Empörend, einfach empörend, wie schlecht die Post heutzutage ist.« Mrs. Alis Schwager presste die Lippen aufeinander, als hätte er etwas dagegen, vor einem Außenstehenden bei seinem richtigen Namen genannt zu werden. »Und das sage ich, obwohl ich drei Postagenturen führe. Mehr, als die Post in den Sack zu stecken, können wir nicht tun – für alles Weitere sind wir nicht verantwortlich.«
»Ich möchte gern ein paar Minuten unter vier Augen mit dem Major reden«, erklärte Mrs. Ali. »Sollen wir das Gespräch hier führen, oder soll ich einen Spaziergang mit ihm machen und ihm das Viertel zeigen?«
»Nein, nein, bleibt ruhig hier«, antwortete Dawid Ali hastig. Halb belustigt, halb gekränkt erkannte der Major, dass den Mann die Vorstellung, Mrs. Ali und er würden an den Nachbarn vorbeipromenieren, geradezu entsetzte. »Der Major muss wahrscheinlich sowieso bald wieder los – der Nachmittagsverkehr ist ja heutzutage richtig schlimm.« Er ging zu der Tür mit den Milchglasscheiben und öffnete sie. »Dann lassen wir euch jetzt also ein paar Minuten allein, und ihr könnt über die alten Zeiten reden.« Im Zimmer dahinter lief leise ein Fernseher, und eine alte Dame saß zusammengesackt in einem Ohrensessel, vor sich ein Gehwägelchen. Sie wirkte halb tot, aber der Major sah, dass sie den Blick blitzschnell auf Mrs. Ali und ihn richtete. »Wenn es recht ist, möchte ich Mutter lieber nicht aus ihrem Sessel scheuchen. Sie wird euch bestimmt nicht stören.«
»Ich brauche keine Aufpasserin«, fauchte Mrs. Ali.
»Nein, natürlich nicht«, sagte Dawid. »Aber wir müssen Mummy das Gefühl geben, wichtig zu sein. Nur keine Sorge«, fügte er, an den Major gewandt, hinzu, »sie ist absolut taub.«
»Ich bedanke mich für Ihre Gastfreundschaft«, sagte der Major.
»Ich glaube nicht, dass wir uns noch mal sehen werden – dicker Strich, Sie wissen schon.« Dawid Ali reichte ihm die Hand. »Es war mir ein Vergnügen, einen so guten Bekannten meines Bruders kennenzulernen, und dass Sie den weiten Umweg gemacht haben, empfinde ich als Ehre.«
Nachdem Dawid Ali seiner Mutter etwas zugeflüstert und das Nebenzimmer verlassen hatte, entfernten sich der Major und Mrs. Ali so weit wie möglich von der offen stehenden Tür und setzten sich auf eine harte Bank vor dem Erkerfenster. Die Einkaufstasche, die sie immer noch in der Hand gehalten hatte, verstaute Mrs. Ali darunter und schälte sich aus dem Mantel. Er fiel unbeachtet hinter ihr über die Lehne.
»Ich habe das Gefühl, als würde ich nur träumen, dass Sie hier sind«, sagte sie.
»Ich glaube nicht, dass Ihre Leute es gerne sähen, wenn ich Sie zwicken würde.« Ein paar Sekunden lang saßen sie schweigend da. Der Major spürte, dass er jetzt die Grenzen des üblichen Smalltalks überschreiten und eine Erklärung abgeben, eine Forderung stellen müsste, wusste jedoch beim besten Willen nicht, wie er anfangen sollte.
»Dieser blöde Ball«, sagte er schließlich. »Ich hatte nie Gelegenheit, mich dafür zu entschuldigen.«
»Ich gebe Ihnen nicht die Schuld an der Grobheit anderer«, entgegnete sie.
»Aber Sie sind weggegangen«, sagte er. »Ohne Abschied.« Sie blickte aus dem Fenster, und er nutzte die Gelegenheit und betrachtete noch einmal die Rundung ihrer Wange und die dichten Wimpern an ihren braunen Augen.
»Ich war einem Tagtraum erlegen«, sagte sie. »Einem flüchtigen Staunen.« Sie lächelte ihn an. »Und dann wachte ich auf und war wieder die
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