Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
praktisch denkende Frau, und mir wurde etwas anderes klar.« Das Lächeln schwand, sie wirkte ernst wie ein Schwimmer vor dem Sprung ins Wasser oder ein Soldat, dem gerade der Befehl erteilt wurde, das Feuer zu eröffnen. »Ich habe mein Schicksal vor vielen Jahren mit der Familie Ali verbunden, und es war an der Zeit, diese Schuld abzutragen.«
»Als Sie mir den Kipling zurückschickten, dachte ich, Sie würden mich hassen.« Er merkte, dass er wie ein gekränktes Kind klang.
»Zurückgeschickt? Aber ich habe das Buch beim Umzug verloren.«
»Abdul Wahid hat es mir gegeben«, sagte der Major verwirrt.
»Ich dachte, es wäre mit allem anderen Wertvollen in meiner kleinen Tasche, aber als ich dann hier war, konnte ich es nicht finden.« Sie riss die Augen auf, und ihre Lippen zitterten. »Sie muss es mir gestohlen haben.«
»Wer?«
»Meine Schwiegermutter, Dawids Mutter«, sagte sie mit einer Kopfbewegung zum Nebenzimmer hin. Der Major wollte ihre Empörung teilen, aber er war viel zu glücklich darüber, dass sie nie die Absicht gehabt hatte, ihm das Buch zurückzugeben.
»Ihre Briefe gehen verloren, man hält Sie davon ab, an der Hochzeit Ihres Neffen teilzunehmen, fordert Sie auf, Ihr Haus zu verlassen«, sagte er. »Sie können nicht hierbleiben, meine Liebe. Ich kann das nicht zulassen.«
»Was soll ich denn tun? Ich muss den Laden aufgeben – George zuliebe.«
»Wenn Sie gestatten, werde ich Sie sofort von hier wegbringen, noch heute«, sagte der Major. »Unter welchen Umständen auch immer.« Er wandte sich zu ihr und ergriff ihre Hände. »Wenn dieses Zimmer nicht so hässlich und bedrückend wäre, würde ich Sie noch um etwas anderes bitten. Aber Sie hier herauszuholen ist wichtiger als jede Rücksichtnahme auf mein Herz, und ich will Ihre Flucht mit keinerlei Bedingungen belasten. Sagen Sie mir einfach, was ich machen muss, um Sie aus diesem Zimmer herauszuholen und irgendwohin zu bringen, wo Sie atmen können. Und beleidigen Sie mich nicht, indem Sie so tun, als würden Sie nicht ersticken in diesem Haus!« Er atmete schwer, und sein Herz flatterte in der Brust wie ein gefangener Vogel.
Mrs. Ali sah ihn mit tränennassen Augen an.
»Sollen wir davonlaufen zu diesem kleinen Cottage, über das wir einmal gesprochen haben? Wo uns keiner kennt und von wo aus wir Postkarten mit rätselhaften Botschaften in die Welt hinausschicken? Dorthin würde ich jetzt gern fahren und alle anderen eine Zeitlang vergessen«, sagte sie.
Er drückte ihre Hände ganz fest und drehte sich nicht um, als aus dem anderen Zimmer ein Geheul hereindrang. »Dawid, komm schnell!«, schrie die alte Dame auf Urdu.
»Gehen wir«, sagte er. »Ich bringe Sie dorthin, und wenn Sie wollen, bleiben wir für immer.«
»Aber was ist mit der Hochzeit? Ich muss dafür sorgen, dass sie auch wirklich getraut werden!«
»Dann fahren wir eben zur Hochzeit!«, schrie er, vor lauter Aufregung alle Schicklichkeit außer Acht lassend. »Aber kommen Sie jetzt, und ich verspreche Ihnen, ich lasse Sie nie im Stich, was immer auch geschieht!«
»Ich komme mit«, sagte sie leise. Sie stand auf und zog sich den Mantel an. Dann griff sie nach der Tüte mit den Lebensmitteln. »Wir müssen los, sonst versuchen sie noch, mich aufzuhalten.«
»Müssen Sie nicht erst packen?«, fragte er und erschrak selbst ein wenig über seinen Wechsel von kurzzeitiger Leidenschaftlichkeit zu kühlem Realitätssinn. »Ich kann im Auto auf Sie warten.«
»Wenn wir jetzt aus irgendwelchen Gründen haltmachen, komme ich nie von hier weg«, sagte sie. »Noch länger zu bleiben, ist viel zu vernünftig. Werden Sie nicht schon in Schottland erwartet? Und muss ich nicht noch bei den Vorbereitungen fürs Abendessen helfen und danach aus dem Koran vorlesen? Und regnet es obendrein auch noch in England?« Tatsächlich hatte es zu regnen begonnen; die dicken Tropfen prasselten ans Fenster wie Tränen.
»Ja, es regnet«, sagte der Major. »Und ich werde in Schottland erwartet.« Er hatte gar nicht mehr an die Jagd gedacht, und als er jetzt auf die Uhr blickte, wurde ihm klar, dass er es, vorausgesetzt, Ferguson hielt sich an die üblichen absurd frühen Essenszeiten, nicht rechtzeitig zum Dinner schaffen würde. Er drehte sich zu Jasmina um, die leicht schwankend dastand. Jeden Augenblick würde sie auf die Bank sinken, und mit dem verrückten Vorhaben der Flucht wäre es vorbei. Ihre Miene verlor schon alle Lebendigkeit. Noch einen winzigen Moment, dann würde sie sein
Weitere Kostenlose Bücher