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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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sagen Sie mir: Wer ist mehr zu bedauern?«
    »Das wirkliche Leben steckt nun mal voller Komplikationen«, sagte sie lachend. »Oder können Sie sich vorstellen, wie es wäre, wenn die ganze Welt morgen beschließen würde, nach England in eine Fischerhütte zu ziehen?«
    »Es ist Wales, um genau zu sein. Und hier werden die Leute tatsächlich ein bisschen komisch, wenn zu viele Besucher kommen.«
     
    Er gab ihr den schöneren seiner beiden Schlafanzüge, blaue Baumwolle mit weißen Paspeln, seinen kamelhaarfarbenen Morgenrock und ein Paar Wollsocken. Er war froh, doch so viel mitgenommen zu haben. Nancy hatte ihn oft geschimpft, weil er, wie sie fand, aus lauter Ängstlichkeit immer viel zu viel einpackte und hartnäckig darauf bestand, stets mit einer Arzttasche aus Leder zu verreisen. Die modernen Touristen mit ihren riesigen weichen Reisetaschen voller Sportschuhe, zusammengeknüllter Trainingsanzüge, Vielzweckhosen und Vielzweckkleidern mit versteckten Taschen und aus speziell für das Reisen geeignetem Stoff, die sie ungeniert auch im Theater und in teuren Restaurants trugen, konnte er überhaupt nicht ausstehen.
    Aus einem Extrafach holte er einen Wachstuchbeutel hervor, der seinem Vater gehört hatte, entnahm ihm ein Ledernecessaire und breitete, ein wenig verlegen wegen der Intimität der Gegenstände, Seife, Shampoo, Zahnpasta und ein kleines Baumwollhandtuch vor sich aus, das er für Notfälle immer dabeihatte.
    »Ich gehe schnell zum Auto«, sagte er. »In meinem Pannenkoffer ist eine extra Zahnbürste.«
    »Neben einem Fässchen Brandy und einer zusätzlichen Shakespeare-Ausgabe?«, fragte sie.
    »Sie lachen über mich«, entgegnete er. »Aber wenn ich keine Decke im Auto hätte, würde ich heute Nacht ziemlich frieren auf der Couch.« Er glaubte zu sehen, dass sie errötete, aber es konnte auch das Flackern der Kerzenflamme auf ihrer Haut gewesen sein.
     
    Als er zurückkehrte, hatte sie seinen Schlafanzug und den Morgenrock an und kämmte sich mit seinem kleinen, fast unbrauchbaren Kamm die Haare. Die Wollsocken hingen an ihren schmalen Fesseln herunter. Dem Major stockte der Atem, und eine nicht gekannte Spannung durchfuhr seinen Körper.
    »Die Couch ist sehr unbequem«, sagte sie. Ihre Augen waren ganz dunkel im Licht der Lampen, und als sie die Arme hob und das Haar zurückwarf, sah er, wie sich unter dem glatten Stoff des geliehenen Schlafanzugs und dem weichen Morgenrock die Rundungen ihres Körpers abzeichneten. »Ich weiß nicht, ob Sie es da warm genug haben.«
    Der Major spürte, dass er jetzt unbedingt nicken musste, ohne dabei die Kinnlade herunterzuklappen.
    »Zahnbürste«, stieß er mit Mühe hervor. Er streckte sie ihr am äußersten Ende des Stiels entgegen; er wusste, dass er, wenn er die Fassung bewahren wollte, keinesfalls ihre Fingerspitzen berühren durfte. »Zum Glück ist die Decke aus Kaschmir. Ich werde es schön gemütlich haben.«
    »Aber Sie müssen wenigstens den Morgenmantel anziehen.« Sie stand auf und ließ den Morgenrock von ihren Schultern gleiten, und der Major fand das so sinnlich, dass er die Fingerspitzen in die Handflächen grub, damit ihm nicht noch wärmer wurde.
    »Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Schon allein ihre Nähe drohte, ihn zu überwältigen. Er wich zurück und verzog sich in Richtung Schlafzimmer, um das dahinterliegende winzige Bad aufzusuchen. »Ich sage schon mal gute Nacht für den Fall, dass Sie schon schlafen.«
    »Es ist so schön hier, dass ich am liebsten die ganze Nacht wach liegen und den Mond auf dem Wasser betrachten würde.«
    »Ein bisschen ausruhen ist viel besser.« Er stürzte davon, fand nur mit Anstrengung die Badezimmertür und zwängte sich hinein. Er fragte sich, wie lange er unter dem Vorwand, sich zu waschen, in dem Versteck würde ausharren müssen, bis sie eingeschlafen war, und einen Moment lang wünschte er, er hätte etwas zu lesen mitgenommen.
     
    Wasser und Seife erfrischten ihn, gaben ihm aber gleichzeitig das Gefühl, töricht gewesen zu sein. Wieder einmal hatte er es zugelassen, dass seine Ängste – und in diesem Fall vielleicht seine Phantasie – über seine Vernunft siegten. Mrs. Ali war nicht anders als alle anderen Frauen, sagte er sich, und hielt dem Gesicht im trüben Spiegel flüsternd einen Vortrag. »Sie verdient Schutz und Respekt. In deinem Alter solltest du wahrlich in der Lage sein, eine kleine Hütte mit einer Angehörigen des anderen Geschlechts zu teilen, ohne dich wie ein pickliger

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