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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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bergabwärts vor ihr auf, als wollte er sie packen. »Die Tage der Ordnungshüter von Brians Schlag sind gezählt.«
    »Bitte – ich muss zu meinem Neffen!«, rief Jasmina.
    »Sie scheinen mir ein Mann der Tat zu sein, Brian«, sagte der Major, während er sich so beiläufig wie möglich das Gewehr von der Schulter streifte und es sachte über der Armbeuge brach. »Ich schlage vor, dass Jim und Sie Verstärkung holen und die Dame und ich zu der alten Frau hinuntergehen und sie ganz ruhig dazu bringen, sich zu benehmen.«
    »Scheiße«, sagte Jim und starrte wie gebannt auf die Flinte. Jasmina schnappte nach Luft, nutzte dann aber die Gelegenheit, drehte sich um und lief den Abhang hinunter.
    »Scheiße«, sagte der Major. »Ich muss ihr nach.«
    »Dann nichts wie los«, rief Brian. »Ich sorge dafür, dass Klemmbrett-Jim die richtigen Anrufe macht.«
    »Es ist übrigens nicht geladen«, rief der Major noch, während er Jasmina hinterherstolperte, unterließ es jedoch, die Patronen in seiner Tasche zu erwähnen. »Aber die alte Dame hat bereits jemanden mit der Nadel niedergestochen.«
    »Ich habe kein Gewehr gesehen«, sagte Brian und scheuchte ihn mit einer Handbewegung fort.
    Während der Major zu laufen begann, ohne sich um die zahlreichen Kaninchenlöcher zu kümmern, in denen man leicht umknicken konnte, hörte er Brian rufen: »Und Jim wird das bestätigen, sonst erzähle ich den anderen, dass er mich in seiner Schicht Leute retten lässt und dann die ganze Ehre einheimst.«
    »Das war doch nur ein einziges Mal«, entgegnete Jim. »Das Mädchen damals war so weggetreten, da hab ich gar nicht mitgekriegt, dass die schon längst gerettet worden war. Zwei Stunden hab ich auf sie eingeredet.«
    »Soviel ich weiß, hätte sie sich danach am liebsten gleich noch mal umgebracht«, hörte der Major Brian sagen. Dann erreichte er das Ginstergestrüpp und die verkümmerten Bäume, und die Stimmen erstarben.
     
    Hinter dem Gestrüpp sah er Jasminas kleinen Honda halb im Ginster vergraben. Eine tiefe Furche im Schlamm deutete darauf hin, dass der Wagen abgerutscht und seitlich ausgeschert war, bevor er zum Stillstand kam. Vielleicht hatte Abdul Wahid vorgehabt, der Einfachheit halber mit dem Auto nach Mekka zu fahren.
    Etwa fünfzig Meter entfernt kniete Abdul Wahid nahe, aber nicht gefährlich nahe am Klippenrand. Er schien zu beten, hatte den Kopf zu Boden gesenkt, als hätte er nichts von dem Drama rings um ihn bemerkt. Dichter beim Major stand dort, wo zwei Ginsterbüsche eine Art Durchgangsschneise bildeten, die alte Frau Wache. Ihre Gesichtszüge waren hart wie eh und je, wurden jetzt aber von heftigen Atemzügen belebt. Ihre Stricknadel war auf Jasmina gerichtet. Sie hielt sie ganz fachgerecht – mit der Faust und von oben nach unten zielend wie einen Dolch, der jeden Augenblick zustößt –, und der Major war überzeugt, dass sie durchaus fähig war, ihre Waffe tatsächlich zu benutzen.
    »Tante, was tust du da?«, schrie Jasmina in den Wind hinein und spreizte beschwichtigend die Hände. »Warum müssen wir denn hier draußen im Regen herumstehen?«
    »Ich tue das, was keiner von euch mehr kann«, rief die Alte. »Keiner weiß mehr, was es bedeutet, Ehrgefühl zu haben!«
    »Aber was ist mit Abdul Wahid?« Jasmina hob die Stimme und brüllte zu ihm hinüber. »Abdul Wahid! Bitte!«
    »Weißt du nicht, dass man einen Mann beim Beten nicht stören darf?«, sagte die alte Frau. »Er betet, weil er die Bürde auf sich nehmen und die Familienehre wiederherstellen will.«
    »Das ist doch verrückt! So lassen sich die Probleme nicht lösen, Tante!«
    »So wurde es immer schon gemacht, Kind«, entgegnete die Alte verträumt. »Als ich sechs war, wurde meine Mutter von meinem Vater in der Zisterne ertränkt.« Sie ging in die Hocke und zog mit der Stricknadel einen Kreis ins Gras. »Ich hab’s gesehen. Ich hab gesehen, wie er sie mit einer Hand hineinstieß und ihr mit der anderen noch übers Haar strich, denn er liebte sie sehr. Sie hatte mit dem Mann gelacht, der immer kam und Teppiche und Kupferkannen verkaufte, und ihm mit eigenen Händen Tee in den besten Tassen ihrer Schwiegermutter gereicht.« Sie richtete sich wieder auf. »Und ich bin immer stolz gewesen auf meinen Vater und auf das Opfer, das er gebracht hat.«
    »Aber wir sind zivilisierte Menschen und nicht irgendeine Bauernfamilie vom Land, die immer noch in der Vergangenheit lebt!«, sagte Jasmina mit vor Entsetzen erstickter

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