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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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dünnen Wolldecke wiederkam, die er statt des seidenbezogenen Daunenbetts mitgebracht hatte, war Abdul Wahid in seinem neuen Zimmer bereits heimisch geworden. Auf der Kommode lagen ein Kamm, eine Seifenschale sowie eine Ausgabe des Korans. Das Bild an der Wand war mit einem großen, mit arabischer Kalligraphie bedruckten Baumwollgeschirrtuch verhängt. Der Gebetsteppich wirkte sehr klein auf der blanken Fläche des abgetretenen Dielenbodens. Abdul Wahid saß, die Hände auf den Knien, am Bettrand und starrte in die Luft.
    »Ich hoffe, es ist warm genug«, sagte der Major und legte das Bettzeug ab.
    »Sie war immer so schön«, flüsterte Abdul Wahid. »Wenn sie da war, konnte ich nicht mehr klar denken.«
    »Das Fenster klappert ein bisschen, wenn der Wind ums Haus weht«, fügte der Major hinzu, ging hin und zog die Fensterklinke fester zu. Die Anwesenheit des gefühlsschweren jungen Mannes in seinem Haus verunsicherte ihn ein wenig, und aus Angst, etwas Falsches zu sagen, beschloss er, weiter den herzlichen, unbefangenen Gastgeber zu spielen.
    »Sie haben gesagt, ich würde sie bestimmt vergessen, und ich habe sie ja auch vergessen«, fuhr Abdul Wahid fort. »Aber jetzt ist sie hier, und seitdem dreht sich mir alles im Kopf.«
    »Vielleicht ein Sturmtief.« Der Major spähte aus dem Fenster und hielt Ausschau nach Gewitterwolken. »Meine Frau bekam auch immer Kopfschmerzen, wenn das Barometer fiel.«
    »Es erleichtert mich sehr, in Ihrem Haus wohnen zu können, Major«, sagte Abdul Wahid. Der Major wandte sich erstaunt um. Der junge Mann war aufgestanden und verbeugte sich jetzt kurz vor ihm. »Wieder einen Zufluchtsort weit weg von Frauenstimmen zu haben, ist Balsam für die gequälte Seele.«
    »Ich kann nicht versprechen, dass es so bleibt«, erwiderte der Major. »Meine Nachbarin Alice Pierce singt ihren Gartenpflanzen gern Volkslieder vor. Sie glaubt, dass sie dann schneller wachsen oder was auch immer.« Der Major hatte sich schon oft gefragt, wie eine jaulige Interpretation von »Greensleeves« die Himbeerproduktion steigern sollte, aber Alice behauptete standhaft, es funktioniere wesentlich besser als chemischer Dünger, und tatsächlich erntete sie Jahr für Jahr diverse Obstsorten in beeindruckenden Mengen. »Sie trifft keinen Ton, ist aber nicht zu bremsen.«
    »Dann werde ich meinen Gebeten eines um Regen hinzufügen«, sagte Abdul Wahid. Der Major konnte nicht erkennen, ob das als witzige Bemerkung gedacht war.
    »Wir sehen uns morgen früh«, sagte er. »Normalerweise setze ich gegen sechs Uhr das Teewasser auf.« Als er seinen Gast verlassen hatte und in die Küche hinunterging, spürte er in allen Knochen die Erschöpfung, die die seltsame Wendung der Dinge mit sich gebracht hatte. Er konnte aber nicht umhin, gleichzeitig eine gewisse freudige Erregung zu registrieren, die damit zusammenhing, dass er auf so ungewöhnliche Art in den Mittelpunkt von Mrs. Alis Leben gerückt war. Er hatte ganz spontan gehandelt. Er hatte seine eigenen Wünsche behauptet. Er war versucht, seine Kühnheit mit einem großen Glas Scotch zu feiern, doch kaum in der Küche angekommen, entschied er, dass ein großes Glas Natronwasser vernünftiger war.

[home]
    Dreizehntes Kapitel
    A m Samstagmorgen schien die Sonne, und der Major beförderte im Garten gerade mit Hilfe eines Rechens einen Laubhaufen in eine Schubkarre, als plötzlich die erhobene Stimme seines Sohnes vom Haus her zu ihm drang und er die gesamte Ladung mit einem halb verschluckten Fluch fallen ließ. Da er nicht damit gerechnet hatte, dass Roger den angedrohten Besuch wahr machen würde, war es ihm gar nicht in den Sinn gekommen, von seinem Gast zu erzählen. Aus dem anhaltenden Geschrei im Haus – begleitet von einem Geräusch, das möglicherweise von einem umstürzenden Stuhl herrührte – schloss der Major, dass er sich wohl beeilen musste, wollte er sowohl Roger als auch seinen Hausgast von einer Rauferei abhalten.
    Während er zur Tür rannte, verfluchte er Roger, weil der sich nie die Mühe machte anzurufen, sondern immer unangekündigt auftauchte, wenn ihm danach war. Der Major hätte gerne mit Roger eine vernünftige Regelung zur Ankündigung seiner Besuche vereinbart, aber irgendwie fand er nie die richtigen Worte, um seinem Sohn klarzumachen, dass ihm das Haus seiner Kindheit mittlerweile nicht mehr rund um die Uhr offen stand. Ihm war auch keine allseits akzeptierte Regel bekannt, die besagte, ab wann einem Kind das Privileg der

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