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Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Titel: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Simonson
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nicht albern«, sagte Roger. »Amerikaner sind genau wie wir.«
    Während sein Sohn Sandy mit einem Kuss auf den Mund und einem Arm um die Taille begrüßte, blieb dem Major angesichts der kategorischen Leugnung jeglichen Unterschieds zwischen Großbritannien und der riesigen aufstrebenden Nation jenseits des Atlantiks nur noch die Luft weg. Er bewunderte vieles an Amerika, fand aber auch, dass das Land noch in den Kinderschuhen steckte – war seine Geburt doch gerade einmal sechzig Jahre vor der Thronbesteigung Königin Viktorias erfolgt. Überaus großzügig – er erinnerte sich noch immer an die Kakaopulverdosen und Wachsmalstifte, die man sogar noch mehrere Jahre nach Kriegsende in seiner Schule verteilt hatte – übte Amerika seine enorme Macht auf der ganzen Welt mit einem ungestümen Selbstvertrauen aus, das ihn an ein Kleinkind mit einem Hammer erinnerte, den es irgendwie in die Finger bekommen hat.
    Er gab ja gern zu, dass er möglicherweise voreingenommen war, aber was sollte man von einem Land halten, das die eigene Geschichte entweder in Themenparks konservierte, wo die Angestellten Leinenhauben und lange Röcke, darunter jedoch Turnschuhe trugen, oder aber sie niederriss und der wiederverwertbaren Breitdielen wegen schlichtweg auseinandernahm?
    »Alles in Ordnung, Schatz?«, fragte Roger. »Stell dir vor, Abdul ist auf Einladung meines Vaters hier.«
    »Ja, natürlich«, sagte Sandy und wandte sich dem Major zu. »Sie haben ein wundervolles Haus, Ernest.« Sie streckte ihm ihre lange Hand entgegen; der Major ergriff sie und bemerkte, dass ihre Fingernägel diesmal rosarot mit breiten weißen Spitzen waren. Er brauchte ein paar Sekunden, um sich bewusst zu machen, dass sie so lackiert waren, damit sie wie Fingernägel aussahen, und beklagte insgeheim die unglaubliche Bandbreite der weiblichen Eitelkeit. Nancy, seine Frau, hatte schöne ovale Nägel gehabt, Nägel wie Haselnüsse, und nie mehr daran gemacht, als sie mit einem kleinen Maniküre-Gerät zu polieren. Und sie waren immer kurz gewesen, um sie besser in die Gartenerde bohren und mit ihnen Klavier spielen zu können.
    »Danke«, sagte er.
    »Man kann die Jahrhunderte beinahe riechen!« Sandy war perfekt gekleidet für eine gehobene Variante des Landlebens oder einen Nachmittag im Kurort Tunbridge Wells. Sie trug hochhackige braune Schuhe, eine helle, gut gebügelte Hose, eine Bluse mit aufgedrucktem Herbstlaub und einen um die Schulter gelegten Kaschmirpullover. Sie sah nicht so aus, als wäre sie dafür gerüstet, über einen Zauntritt zu steigen und matschige Schafsweiden zu überqueren, um im Pub zu Mittag zu essen. Ein Anfall übermütiger Boshaftigkeit brachte den Major dazu, genau dies unverzüglich vorzuschlagen.
    »Wir sollten die wunderbare Überraschung eures Besuchs feiern, findet ihr nicht? Was haltet ihr von einem Spaziergang zum Royal Oak mit dortigem Mittagessen?«
    »Das Mittagessen haben wir, ehrlich gesagt, mitgebracht«, sagte Roger. »Wir haben in diesem tollen neuen Laden in Putney ein paar Dinge eingekauft. Die lassen alles per Eilzustellung aus Frankreich einfliegen.«
    »Hoffentlich mögen Sie Trüffelstaub.« Sandy lachte. »Roger hat alles außer den Madeleines damit bestäuben lassen.«
    »Vielleicht möchtest du ja diesen Abdul als Wiedergutmachung zum Mitessen einladen«, fügte Roger hinzu, als wäre der Eklat vom Major ausgegangen.
    »Es ist unhöflich, ihn Abdul zu nennen. Abdul heißt ›Diener‹«, erklärte der Major. »Offiziell sollte man immer Abdul Wahid sagen. Das bedeutet ›Diener Gottes‹.«
    »Da ist er empfindlich, was?«, sagte Roger. »Und seine Tante ist also diese Mrs. Wie-heißt-sie-noch-gleich aus dem Dorfladen, ja? Die, die du mitgebracht hast, um Mrs. Augerspier zum Ausflippen zu bringen?«
    »Diese Mrs. Augerspier ist eine widerwärtige Person.«
    »Ganz unbestreitbar.«
    »Dass es unbestreitbar ist, heißt noch lange nicht, dass man es nicht laut und deutlich sagen soll. Oder sich zumindest weigern sollte, mit einem solchen Menschen Geschäfte zu machen.«
    »Es hat doch keinen Sinn, sich durch aggressives Verhalten etwas Lukratives durch die Lappen gehen zu lassen«, entgegnete Roger. »Für mich ist es jedenfalls sehr viel befriedigender, solche Leute zu besiegen, indem man sie bei einem günstigen Geschäft aussticht.«
    »Auf welchem philosophischen Fundament ruht denn dieser Gedanke?«, fragte der Major.
    Roger machte eine müde abwinkende Handbewegung und warf Sandy einen

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