Mrs Murphy 06: Tödliches Beileid
wissen. Du bist siebzehn. Hast du mit deinen Eltern darüber gesprochen?«
»Nein«, sagte sie rasch.
»Aha.«
»Ich rede nicht mit ihnen. Ich will nicht mit ihnen reden.«
»Ich verstehe.«
»Nein, das verstehen Sie nicht.«
»Weiter, Jody. Hast du Verhütungsmittel genommen?«
»Nein.«
»Also dann« – er atmete aus –, »fangen wir an.« Er nahm ihr Blut ab für einen Schwangerschaftstest und noch ein Röhrchen Blut, um es auf Infektionskrankheiten untersuchen zu lassen. Hierüber informierte er Jody nicht. Wenn sich etwas ergab, würde er es ihr dann sagen.
»Ich hasse das.« Sie drehte sich fort, als die Nadel aus ihrem Arm gezogen wurde.
»Ich auch.« Er drückte ihr einen kleinen Wattebausch auf den Arm. »Hat deine Mutter mit dir über Empfängnisverhütung gesprochen?«
»Ja.«
»Verstehe.«
Sie zuckte die Achseln. »Dr. Johnson, es ist nicht so leicht, wie es sich bei ihr angehört hat.«
»Vielleicht nicht. Die Wahrheit ist, Jody, so richtig verstehen wir die Sexualität des Menschen nicht, aber wir wissen, wenn die Hormone anfangen, durch den Körper zu strömen, dann strömt anscheinend eine gehörige Portion Unvernunft mit ihnen. Und manchmal suchen wir in schwierigen Zeiten bei jemandem Trost, und Sex wird ein Teil des Trostes.« Er lächelte. »Komm Freitag wieder.« Er warf einen Blick auf seinen Kalender: »Hmmm, besser Montag.«
»Ist gut.« Sie wurde blass. »Sie erzählen es doch keinem weiter?«
»Nein. Du?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Jody, wenn du nicht mit deiner Mutter reden kannst, solltest du mit einer anderen älteren Frau reden. Ob du schwanger bist oder nicht, du wirst zu deiner Überraschung feststellen, dass du nicht allein bist. Was du fühlst, haben andere auch gefühlt.«
»Ich fühle nicht viel.«
Er klopfte ihr auf den Rücken. »Okay. Komm Montag zu mir.«
Sie zwinkerte spitzbübisch, als sie aus dem Behandlungszimmer ging.
35
Um nicht taktlos zu erscheinen, verlegte Sandy Brashiers sein Büro neben das von Roscoe Fletcher und machte vorerst keine Anstalten, den geheiligten Raum des verstorbenen Direktors zu belegen.
April Shively bewegte sich am Rande der Impertinenz. Wenn Naomi sie um etwas bat, etwa Informationen zu beschaffen oder Anrufer abzuwimmeln, tat April ihr den Gefallen. Sie und Naomi pflegten einen höflichen, wenn auch nicht innigen Umgang miteinander. Wenn Sandy sie um etwas bat, fand sie tausend Wege, sich Zeit zu lassen.
Obwohl Naomi Fletcher den schweren Schlag von Roscoes Tod jede Sekunde spürte, nahm sie ihre Aufgaben als Leiterin der Unterstufe wahr. Sie musste arbeiten, um ihre Gedanken von dem Schock abzulenken, und die Unterstufe brauchte ihre Betreuung in dieser schweren Zeit.
In der Mittagspause begab sich Sandy in Naomis Büro, dann gingen beide über den Hof zum Verwaltungsgebäude der Oberstufe – Old Main, dem alten Hauptgebäude.
»Direktor werden ist leichter als Lehrer sein, nicht?«, fragte Naomi.
»In den letzten sieben Jahren war ich wohl die loyale Opposition.« Er zog sich den Schulschal enger um den Hals. »Ich merke langsam, egal, welche Entscheidung ich treffe, immer ist jemand für mich, jemand gegen mich, und alle kritisieren mich im Nachhinein. Es ist eine seltsame Erkenntnis, dass die Menschen ihren Willen durchsetzen wollen, ohne die Arbeit zu machen.«
Sie lächelte. »Die ewigen Besserwisser. Roscoe sagte immer, dass grundsätzlich andere für sie die Hiebe einstecken mussten.« Sie zwängte die Finger in ihre pelzgefütterten Handschuhe. »Sie waren zwar kein Fan von ihm, Sandy, aber er war ein tüchtiger Direktor.«
»Ja. Meine Hauptkritik bezog sich auf den Alltagsbetrieb. Sie wissen, ich hatte große Achtung vor seinem Organisationstalent. Meine Einstellung zum Lehrplan von St. Elizabeth wich allerdings um hundertachtzig Grad von seiner ab. Wir müssen auf die Grundlagen achten. Nehmen Sie zum Beispiel seine Computer-Initiative. Großartig. Wir haben alle Kinder dieser Schule am Computer ausgebildet. Und?« Er hob die Hände. »Sie starren auf einen beleuchteten Bildschirm. Das Wissen um diese Technik ist nutzlos, wenn man nichts zu sagen hat, und etwas zu sagen haben kann man nur, wenn man die bedeutenden Schriften unserer Kultur studiert. Der Computer kann die Verfassung nicht für sie lesen und verstehen.«
»Menschen das Denken beizubringen ist ein uralter Kampf«, sagte sie. »Deswegen arbeite ich so gern mit der Unterstufe … sie sind so jung … so aufnahmebereit für
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