Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
einer Fürbittenliste zusammen mit gesellschaftlichen Außenseitern, missratenen Kindern und anderen notorisch Abtrünnigen aus der Gemeinde.
Es gab auch körperliche Veränderungen. An einem Samstag hatte ich Barbara Jeans alte Kenntnisse des Friseurhandwerks in Anspruch genommen und mir das, was von meinem Haar noch übrig war, von ihr abschneiden lassen, bis nur noch ein wenig grauer Flaum meine Kopfhaut bedeckte. Sobald ich den behelfsmäßigen Friseurstuhl freimachte, den wir in der Küche aufgestellt hatten, hüpfte Clarice darauf und wies Barbara Jean an, auch ihr Haar kurz zu schneiden. Sie behauptete, sie täte es, weil sie nach vierzig Jahren Kampf mit Glätteisen, Heißwicklern, Chemikalien und Haarklammern, damit ihr Haar immer perfekt frisiert war, etwas wollte, das weniger Aufwand erforderte. Aber Barbara Jean und ich, wir wussten beide, dass sie es machte, um sich an Richmond zu rächen, der ihren Namen auf die Gebetsliste für Abtrünnige hatte setzen lassen. Sie hatte ihr Haar all die Jahre lang gelassen, weil es ihm so gefiel. Nun war Clarice entschlossen, ihm zu zeigen, dass sie auf mehr als nur eine Weise wieder Anspruch auf ihren eigenen Kopf erhob.
Ich kann sagen, dass Clarice zumindest einen Teil ihrer nach-Richmond-Zeit mit Musik füllte. Sie war wieder in ihre Gewohnheit verfallen, ständig leise vor sich hin zu summen und, ganz gleich auf welcher Oberfläche ihre Finger zum Liegen kamen, geistesabwesend Klavierfingerübungen vor sich hin zu klimpern. Das war ein Tick, mit dem wir sie bereits aufgezogen hatten, als wir noch jung waren, und den sie jetzt wieder an den Tag legte. Clarice war vergnügter und entspannter, als ich sie seit Jahren erlebt hatte, vielleicht auch noch nie.
Richmond veränderte sich sogar noch mehr als Clarice. Ohne seine Frau, die ihn anzog und sich um ihn kümmerte, kam ans Licht, dass unser stilvoller, gebügelter und gepflegter Richmond eigentlich ein Farbenblinder war, der ganz offensichtlich nicht wusste, wie man ein Dampfbügeleisen benutzte. Richmond, der immer so lässig und entspannt gewesen war, verbrachte nun die meiste Zeit unserer Sonntagstreffen damit, Clarice missmutig anzustarren und auf seiner Unterlippe zu kauen. Je nach Laune aß er entweder die diabetikerfreundlichste Kost vom Büffet und zeigte Clarice Beifall heischend seinen Teller, oder er häufte sich Unmengen Süßes auf und machte sich wutentbrannt darüber her, während er Clarice finster anfunkelte. Aber er konnte sie nicht zu einer Reaktion bringen. Das höchste der Gefühle war, dass Clarice sagte: »Versuch dich nicht umzubringen. Es könnte den Kindern etwas ausmachen.«
Aber die größte Veränderung war, dass es nun Richmond und nicht Clarice war, der der Welt ein Trugbild ihrer Beziehung präsentierte. Er hatte allen erzählt, dass Clarice Mamas und Papas Haus in Leaning Tree gemietet hatte, weil so viele ihrer Klavierschüler in den neuen Siedlungen dort wohnten. Alle, die die beiden kannten, wussten, dass sie ausgezogen war, aber er wiederholte hartnäckig die Mär, dass Clarice jeden Tag zum Üben und Unterrichten in ihr Studio in Leaning Tree fahre und dann jeden Abend zu ihm nach Hause käme. Ich hatte immer gedacht, ich würde mich freuen, wenn ich einmal Zeuge würde, wie Richmond einen kräftigen Tritt in den Hintern bekommt, aber es war traurig, den fabelhaften Richmond dazu verkümmert zu sehen, solche Märchen verbreiten zu müssen.
Genauso wie sein Verhalten zu Clarice wandelten sich auch Richmonds Gefühle mir gegenüber von Woche zu Woche. Er wusste nicht, ob er es mir offen und feindlich zum Vorwurf machen konnte, dass Clarice ihn verlassen hatte, oder ob ich für ihn eher ein Mittel war, durch das er in der Gunst seiner Frau wieder steigen würde, und deshalb auf Schmeicheleien setzen sollte. Diese Woche, als wir im All-You-Can-Eat auf Barbara Jeans Ankunft warteten, war er übermäßig höflich zu mir. Er erkundigte sich nach meinem Gesundheitszustand und machte mir ein Kompliment über das Kleid, das er bereits hundert Mal an mir gesehen haben musste. Doch es kam alles plump und gezwungen rüber. Verzweiflung stand dem armen Richmond nicht besonders gut zu Gesicht.
Ich hörte, wie Clarice einen Seufzer ausstieß, und als ich über die Schulter blickte, sah ich, dass ihre Cousine in Begleitung von Minnie McIntyre über die Straße auf das Diner zukam. Minnie wurde beinahe von ihrem neuen Wahrsagerkostüm verschluckt, eine übergroße Silberrobe, die sich
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