Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
feststellen dürfen, dass der Straßenbelag aus Gummi war. Lester zu heiraten stand nun außer Frage. Chick und Barbara Jean mussten jetzt irgendwie gemeinsam ihr Leben gestalten. Detroit, Chicago, Los Angeles. Jede Stadt, ob sie nun in Flammen stand oder nicht, musste nun genügen.
Als sie im All-You-Can-Eat ankam, war der Feierabendansturm in vollem Gange. Barbara Jean sah Little Earl von Tisch zu Tisch rennen und Getränkebestellungen aufnehmen oder Teller abräumen, aber Chick war nirgends zu sehen. Sie ging durch das Diner und dann den hinteren Gang entlang und warf einen Blick in die Küche. Noch immer keine Spur von Chick. Big Earl war ganz allein dort und so beschäftigt damit, mit Töpfen und Pfannen zu hantieren, dass er gar nicht mitbekam, dass sie ihren Kopf durch die Tür steckte. Also ging sie zur Vorratskammer.
Barbara Jean klopfte vorsichtig an die Tür und flüsterte: »Ray?« Niemand antwortete. Sie schob die Tür auf und betrat den dunklen Raum. Sie tastete die Wand ab, bis sie den Lichtschalter gefunden hatte. Alle Sachen von Chick waren weg. Das Bett stand noch da, aber es war abgezogen. Seine Bücher und Zeitschriften stapelten sich nicht mehr auf den selbstgebauten Regalen. Seine Kleider hingen nicht mehr an den Haken, die Big Earl in die Wände gebohrt hatte. Sie ging weiter hinein und drehte sich einmal im Kreis, als würde sie ihn so versteckt in einer Ecke des winzigen Raums finden. Das Einzige, was sie fand, war die Timex-Armbanduhr, die sie ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, dem Tag, der für sie nun bereits tausend Jahre zurückzuliegen schien. Die Uhr lag auf ein paar aufgestapelten Dosen neben dem Bett, umgeben von den winzigen Scherben des zerbrochenen Uhrenglases. Sie nahm die Uhr und drückte sie, so dass sie spürte, wie sich das zerbrochene Glas in ihre Handfläche bohrte.
Sie hörte Big Earls polternde Stimme hinter sich. »Barbara Jean, alles in Ordnung?«
»Ich hab Ray gesucht«, sagte sie.
Big Earl betrat die Vorratskammer, und seine kräftige Gestalt ließ den Raum noch kleiner wirken. Er stand da, wischte sich die Hände an der Schürze ab und sagte: »Ray hat gestern Abend gekündigt, Liebes. Hat gesagt, er wolle weiterziehen.«
Barbara Jean gelang es, nicht zu schreien, als sie fragte: »Hat er gesagt, wohin er geht?«
»Nein, er hat bloß gesagt, dass er gehen muss.« Big Earl legte ihr die Hand auf die Schulter. »Vielleicht ist es das Beste für euch beide, zumindest vorerst.«
Barbara Jean nickte, denn sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Dann lief sie los. Sie hastete aus dem All-You-Can-Eat und auf die Straße hinaus. Erst ging sie, dann rannte sie in Richtung Main Street und dann hinüber zur Wall Road. Sie konnte sich kaum an den Weg erinnern, aber schließlich fand sie die sich dahinschlängelnde Schotterstraße, die zu dem Haus führte, in dem Chick einmal mit seinem Bruder gewohnt hatte.
Sie war schweißüberströmt und japste nach Luft, als Desmonds Haus in Sicht kam. Sie sah den großen roten Truck, mit dem Desmond immer die Leute von der Wall Road jagte, der auf einem kahlen Fleck inmitten des von Unkraut überwucherten Stücks Rasen stand, der wohl den Vorgarten darstellen sollte. Die Sonne war mittlerweile schon untergegangen, und das Grundstück lag im Dunkeln, abgesehen von dem pulsierenden blauen Licht eines Fernsehers, das durch eines der Fenster fiel. Sie eilte hinters Haus und fand den verfallenen alten Schuppen, den Chick einmal sein Zuhause genannt hatte. Zum zweiten Mal an diesem Abend durchsuchte Barbara Jean einen leeren Raum. Das Mondlicht, das durch die offene Tür hereinfiel, spendete genug Licht. Sie sah, dass die wenigen persönlichen Gegenstände, die ihr bei ihren früheren, heimlichen Besuchen mit Chick aufgefallen waren, verschwunden waren. Die beiden Poster von fliegenden Adlern, das Foto seiner Eltern, der zerschlissene Schlafsack, der mit groben rechteckigen Stoffresten geflickt war – alles fort.
Aber dann, gerade als sie dachte, sie würde vor Verzweiflung den Verstand verlieren, drehte sie sich um und sah ihn im Türrahmen stehen. Sie rief: »Ray!«, und rannte ein paar Schritte auf ihn zu.
Nicht Ray, wurde ihr klar, als sie nah genug war, um den sauren Schweißgeruch zu wittern und seinen Atem auf ihrem Gesicht zu spüren.
Desmond Carlson griff nach oben und zog an einer Kette, um die nackte Glühbirne, die von der Decke baumelte, anzumachen, so dass sie sich beide sehen konnten. Das, was Barbara Jean an Desmond,
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