Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
winkte Clarice ab. »Ich habe gesehen, wohin Reverend Petersons Ratschläge führen. Und nichts für ungut, Mutter, aber ich habe nicht vor, meine goldenen Jahre damit zu vergeuden, Huren mit Hilfe eines Megafons zu bekehren.«
Für diesen Schlag unter die Gürtellinie fühlte sie sich sogleich schuldig, als sie sah, dass sich die Augen ihrer Mutter mit Tränen füllten. Aber Clarice war schon so lange Zeit wütend, und es warteten noch viel drastischere Dinge darauf, ausgesprochen zu werden. Um zu verhindern, dass sie all diese Dinge sagte, atmete sie tief durch und nahm dann einen Schluck aus ihrer Teetasse. Der Tee war noch viel zu heiß für den großen Schluck, den sie genommen hatte, und sie verbrühte sich alles von den Lippen bis zum Magen. Es schmerzte so sehr, dass es ihr für ein paar Sekunden den Atem verschlug, aber die Zeit, die sie brauchte, um sich davon zu erholen, hinderte ihre Zunge daran, die noch gemeineren Dinge zu sagen, die ihr im Kopf herumspukten.
Clarice sagte: »Mutter, ich liebe dich, aber das hier geht dich nichts an. Das ist eine Sache zwischen Richmond und mir, und ich denke, ich habe ihm meinen Standpunkt bereits klargemacht. Ich habe die Nase voll von den Dingen, so wie sie waren. Ich werde nach Hause zurückkehren – oder auch nicht –, wenn ich es für angebracht halte.«
Beatrice wimmerte leise und sagte: »Also wirklich, wenn ich daran denke, wie hart ich um unser beider Überleben gekämpft habe, als du geboren wurdest.« Sie legte theatralisch den Handrücken an die Stirn. »Es war das reinste Grauen.« Als dies nicht den erwünschten Effekt brachte, änderte sie ihre Taktik. In dem Tonfall, in dem sie auch ihre Megafonpredigten hielt, verkündete sie: »In den Episteln heißt es: ›Die Weiber seien untertan ihren Männern als dem Herrn.‹ Was sagst du dazu?«
Clarice schnauzte zurück: »Ich sage, dass Gott und ich uns darüber noch mal unterhalten müssen. Die Tage, in denen ich mich jemandem untertan gemacht habe, sind vorbei.«
Jetzt meldete sich Richmond zum ersten Mal zu Wort. »Ich hab mit den Kindern gesprochen«, sagte er vorwurfsvoll, »und sie sind schockiert darüber, dass du das getan hast. Sie sind sehr bestürzt und verwirrt.«
Clarice erwiderte: »Dann musst du aber mit vier anderen Kindern gesprochen haben als die, mit denen ich mich unterhalten habe. Als ich Carolyn, Ricky und Abie erzählt habe, dass ich ausgezogen bin, haben sie gesagt, sie hätten sich schon gewundert, dass ich so lange damit gewartet habe. Und wenn Carl bestürzt ist, dann nur deshalb, weil er dir zu ähnlich ist und es weiß. So wie ich das sehe, habe ich ihm einen Gefallen erwiesen, den ich ihm schon vor Jahren hätte tun sollen. Jetzt denkt er vielleicht mal über all den Mist nach, den er seiner Frau zugemutet hat, und kapiert, dass eines Tages vielleicht alles auf ihn zurückfallen wird.«
Richmond wandte sich an Beatrice und seufzte. »Siehst du? Es ist, wie ich dir gesagt habe. Sie klingt immer mehr wie Odette.«
Beatrice nickte. »Ich hab schon immer gewusst, dass dieses Mädchen eines Tages zum Problem werden würde.«
Clarices Mutter glaubte, dass eine Frau nur durch drei Dinge zeigen konnte, dass sie gut erzogen war: indem sie sich tadellos kleidete, indem sie sich ausdrückte wie eine Debütantin von der Ostküste und indem sie sich ihrer Figur zuliebe bis an die Grenze der Bewusstlosigkeit hungerte. Also hatte ihr Odette nie gefallen. Doch Beatrice hatte sich den falschen Moment ausgesucht, um auf Odette loszugehen. Clarices kranke Freundin, die immer und immer wieder für sie eingetreten war, wenn Clarice sie gebraucht hatte, und die ihr nun sogar ihr Haus zur Verfügung gestellt hatte. Das bisschen Zurückhaltung, das Clarice sich noch abgerungen hatte, lief nun Gefahr, ihr ganz zu entgleiten. Sie sah ihre Mutter und ihren Ehemann aus schmalen Augen an und war kurz davor, die Fassung zu verlieren. Doch gerade als ihre verbrühte Zunge im Begriff war, ihnen eine hitzige, wutrote Serie lang überfälliger Worte entgegenzuschleudern, wurde Clarice von einem leisen Klopfen an der Tür abgelenkt. Clarice erhob sich von ihrer Bank und sagte gefasst: »Meine Schülerin ist hier.«
Als Clarice auf dem Weg zur Tür hinter dem Klavier hervorkam, um ihre Schülerin hereinzulassen, sah Beatrice zum ersten Mal, was ihre Tochter anhatte. Beatrice stieß ein Wimmern aus und wandte entsetzt das Gesicht ab.
Am ersten Wochenende in ihrem neuen Haus war Clarice in den Keller
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