Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
schwach, um die Infektion noch zu bekämpfen. Es sah so aus, als würde sie den Tag nicht überleben. Ohne sich umzuziehen, eilte Barbara Jean, sobald sie aufgelegt hatte, direkt hinüber ins Krankenhaus. Jetzt, Stunden später, folgte sie der Wegbeschreibung der Rezeptionistin zum Aufzug durch ein Labyrinth aus Arbeitsplätzen und erntete dabei noch mehr neugierige Blicke. Die Leute drehten sich auf ihren Bürostühlen nach ihr um und sahen ihr nach, als sie in ihrer Bluse mit dem hohen Kragen, dem langen Rock aus Ginghamstoff und den engen, spitzen Lederstiefeln vorbeiging.
Im Erdgeschoss des Turms drängten sich so viele Arbeitskabinen, Aktenschränke und hohe Regale, dass man die runde Form des Gebäudes kaum noch erahnen konnte. Doch als Barbara Jean oben aus dem Aufzug trat, hätte der Raum dort sich nicht stärker vom Erdgeschoss unterscheiden können. Der fünfte Stock bestand aus einem großen offenen Raum mit einer vier Meter hohen Decke, die von rauen Holzbalken getragen wurde. Die großen Fenster, die die nackten Ziegelwände dominierten, ließen so viel Nachmittagssonne hinein, dass sie einen Moment blinzeln musste, damit sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnen konnten.
Sie sah einen langen Holztisch in der hinteren Ecke des Raums. Er wirkte alt und abgenutzt, doch er war erst kürzlich frisch gewachst worden. Hinter dem Tisch, auf dem sich Bücher stapelten, hörte Ray Carlson auf, Papiere zu sortieren, als er sie sah.
Zwei schöne, stolze Wanderfalken folgten Barbara Jean aus ihren großen Käfigen heraus mit ihrem Blick, als sie auf ihrem Weg zu Chick an ihnen vorbeiging. Der Dielenboden knarzte bei jedem Schritt unter ihren unzeitgemäßen Stiefeln, und dieses knarrende Geräusch mischte sich unter das Flügelrascheln der Vögel auf ihren Sitzstangen.
Chick stand auf und kam um den Tisch herum, um sie zu begrüßen. »Hallo, Barbara Jean. Das ist aber eine nette Überraschung.« Ein fragender Blick huschte über sein Gesicht, als er ihre anachronistische Kleidung bemerkte.
Sie spürte, dass er sie ansah, und sagte: »Ich hatte eigentlich vor, so zu tun, als mache ich Butter.«
Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, aber er nickte, als ergebe das, was sie sagte, einen Sinn.
Einige peinliche Sekunden lang stand Barbara Jean so vor Chick und bereute, dass sie sich auf dem Weg vom Krankenhaus hierher keine Worte zurechtgelegt hatte. Nun überkam sie das dringende Bedürfnis, einfach zurück zum Aufzug zu rennen. Aber sie dachte an das Versprechen, das sie gegeben hatte, und anstatt wegzulaufen blickte sie Chick direkt in die Augen. Sie hoffte, dass die Kraft, die sie in seiner Nähe immer dazu bewegt hatte, ihre Gefühle offen auszudrücken, auch diesmal ihre Wirkung tun würde. Dann sagte sie das Erste, was ihr in den Sinn kam. »Odette …«
Er legte die Hand ans Herz und unterbrach sie: »Ist sie … von uns gegangen?«
»Nein, nein, sie ist noch nicht fort. Sie ist wach und redet sogar. Aber sie sagt komische Sachen.«
Er lächelte. »Na ja, immerhin reden wir hier von Odette, also könnte komische Sachen sagen durchaus ein gutes Zeichen sein, oder?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ihr Arzt war sich sicher, dass sie den Tag nicht mehr überleben würde, und ich denke nicht, dass sich seine Meinung da geändert hat.«
»Es tut mir sehr leid, das zu hören«, erwiderte er. »Aber hoffen wir, dass sie ihn überrascht.« Er zeigte auf zwei Lehnstühle aus kupferfarbenem Leder, die vor seinem Schreibtisch standen. »Möchtest du dich setzen?«
»Ja, danke«, antwortete sie, aber ihre Füße trugen sie an den Stühlen vorbei und stattdessen zu einem der großen Fenster. Chick folgte ihr und stellte sich so nah neben sie, dass sich ihre Arme beinahe berührten.
Vom Fenster aus konnte Barbara Jean das Krankenhaus sehen, in dem Odette lag. Sie dachte an ihre mutige Freundin und versuchte, Kraft daraus zu ziehen. Odette würde direkt zum Punkt kommen, dachte sich Barbara Jean. Also machte sie es genauso.
»Ich bin Alkoholikerin«, sagte sie, »genauso wie meine Mutter früher. Es ist ein täglicher Kampf, aber ich habe schon seit einer Weile nichts mehr getrunken.« Das war zwar nicht das, was sie zu sagen beabsichtigt hatte, sondern vielmehr etwas, was sie noch nie außerhalb eines Treffens der Anonymen Alkoholiker geäußert hatte. Aber nachdem es ausgesprochen war, hatte sie das Gefühl, dass es ein ebenso guter Anfang war wie jeder andere auch.
Er runzelte die Stirn, als suche
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