Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
ausdiskutieren.«
Sie machte ein verächtliches Geräusch und scheuchte ihn mit einer Handbewegung davon. »Da gibt’s nichts zu reden. Heute in einem Jahr bin ich tot.«
Clarice war Minnies Gefasel überdrüssig und zischte mir ins Ohr: »Mein Essen wird kalt. Haben wir der alten Hochstaplerin jetzt lang genug zugehört?«
»Das hab ich gehört!«, schrie Miss Minnie. Sie war alt, aber eins musste man ihr lassen, die Frau hatte noch immer ein ausgezeichnetes Gehör. Sie sprang vom Hocker auf, stürzte sich auf Clarice und war drauf und dran, ihre lila lackierten Nägel in Clarices Gesicht zu vergraben.
Little Earl hielt sie zurück und schaffte es, sie wieder auf den Hocker zu bugsieren. Minnie brach umgehend in Tränen aus, und schwarze Schlieren aus Wimperntusche liefen ihr die kupferroten Wangen hinunter. Vielleicht hatte sie schon so viel darüber geredet, dass sie nun anfing, es selbst zu glauben. Oder sie hatte wirklich mit Carl dem Großartigen gesprochen. Aber Schwindel oder nicht, wir konnten alle sehen, dass hier eine Frau saß, die glaubte, was sie da sagte. Sogar Clarice hatte ein schlechtes Gewissen, als sie Minnies Zusammenbruch sah. Sie sagte: »Miss Minnie, es tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen sollen.«
Aber Minnie war nicht bereit, sich Entschuldigungen anzuhören oder sich trösten zu lassen.
»Ich wusste, dass es so kommen würde. Niemand schert sich darum, was mit mir passiert. Als Carl mir gesagt hat, dass ich ein Jahr nach Earls Tod sterbe, wusste ich sofort, dass ich nicht auf Mitgefühl hoffen kann.«
Little Earl, der seiner Stiefmutter den Rücken getätschelt hatte, während sie jammerte, trat einen Schritt von ihr weg und sagte: »Was?«
»Carl kam heute in aller Früh zu mir und sagte, dass ich Earl binnen Jahresfrist ins Grab folgen würde. Das waren seine genauen Worte.«
Als den Leuten klar wurde, was sie da sagte, wurde es im Restaurant still.
»Willst du damit sagen, dass Papa tot ist?«
»Ja, er starb letzte Nacht im Gebet. Das, zusammen mit den schlechten Neuigkeiten, die mir Carl heute Morgen eröffnete, hat mir den Sonntag ganz fürchterlich, fürchterlich verdorben, das könnt ihr mir glauben.«
Little Earl packte Minnie an den Schultern und drehte sie auf dem Hocker herum, so dass sie ihn direkt ansah. »Papa ist letzte Nacht gestorben … und du hast mich nicht angerufen?«
»Ich wollte dich ja anrufen, aber dann dachte ich mir, wenn ich euch jetzt anrufe, dann fühlt ihr euch verpflichtet rüberzukommen. Dann kommen auch noch der Pfarrer und der Bestatter und vielleicht sogar die Enkelkinder. Und alle machen so einen Wirbel, dass an Schlaf sicher nicht mehr zu denken ist. Also dachte ich darüber nach und kam zu dem Schluss, dass dein Vater genauso wenig wieder lebendig wird, wenn ich eine Nacht durchschlafe, wie wenn ich dich anrufe und kein Auge mehr zubekäme. Also hab ich es bleiben lassen.«
James, Richmond und Lester kamen vom Fenstertisch zu uns herüber. Niemand sagte etwas, und Minnie spürte, dass es kein wohlwollendes Schweigen war. Sie sah zu Little Earl und Erma Mae und sagte: »Ich wollte doch nur rücksichtsvoll sein. Ihr braucht doch auch alle euren Schlaf.«
Als die Menge um sie herum weiter schwieg, brach sie erneut in Wehklagen und Tränen aus. »So behandelt man doch keine Sterbende«, jammerte sie.
Little Earl löste seine Schürze und sagte: »Ist er bei Stewart’s?« Stewart’s war die größte Leichenhalle für Farbige der Stadt, dorthin wurden die meisten von uns gebracht, wenn unsere Zeit gekommen war.
»Nein«, erwiderte Minnie weinerlich. »Ich hab dir doch gesagt, ich hab es gut sein lassen. Er ist oben, neben dem Bett. Und das war ja auch nicht gerade leicht für mich. Ich hab kaum sieben Stunden Schlaf bekommen, mit ihm, wie er da so kniete und mich die ganze Nacht anstarrte.«
Little Earl warf die Schürze auf den Boden und rannte zur Tür hinaus und hinüber zum Haus seines Vaters auf der anderen Straßenseite. James folgte ihm auf dem Fuß.
Erma Mae fing an zu schluchzen. Sie kam um das Büffet herum und warf sich direkt in Barbara Jeans Arme, vorbei an Clarice und mir, obwohl wir beide enger mit ihr befreundet waren als Barbara Jean. Aber ich war weder überrascht noch beleidigt. Und ich bin sicher, Clarice ging es genauso. Jeder wusste, dass Barbara Jean die Expertin in Sachen Trauer war.
Während Barbara Jean Erma Mae im Arm hielt und ihr den bebenden Rücken tätschelte, sah ich durchs Fenster auf die andere
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