Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
»Klappe«. Doch obwohl Clarice an Mrs Jacksons Gesichtsausdruck ablesen konnte, dass sie besser nichts mehr sagen sollte, redete sie weiter: »Außerdem ist Barbara Jean gar nicht unsere Freundin. Niemand ist mit ihr befreundet, außer die Jungs, mit denen sie sich rumtreibt. Und sie stinkt, Mrs Jackson. Wirklich. Sie badet jeden Tag in billigem Parfum. Und meine Cousine Veronica hat letztes Jahr gesehen, wie sie sich in der Schultoilette gekämmt hat, und da ist eine Kakerlake aus ihren Haaren gefallen.«
Mrs Jacksons Augen verengten sich, als sie Clarice ansah und langsam und bestimmt sagte: »Odette wird dieses Brathühnchen rüber zu Barbara Jean bringen, damit sie an dem Tag, an dem ihre Mutter beerdigt wurde, ein bisschen Freundlichkeit erfährt. Wenn du nicht mitgehen willst, lass es bleiben. Wenn du dich um deine Füße sorgst, dann leih dir ein paar Turnschuhe von Odette. Wenn du Angst hast, dass Kakerlaken aus ihren Haaren fallen, dann nimm dich in Acht, wenn sie ihr Haar schüttelt. Oder vielleicht gehst du besser gleich heim.«
Das Einzige, was Clarice noch schlimmer erschien, als sich zu ihrer Verabredung mit Richmond zu verspäten, weil sie diesen albernen Botengang erledigen musste, von dem Mrs Jackson nicht abgebracht werden konnte, war die Vorstellung, wieder nach Hause zu gehen. Denn dann, da ihre Anstandsdame anderweitig beschäftigt war, würde sie dazu gezwungen sein, daheimzubleiben und den ganzen Abend mit ihrer Mutter zu verbringen. Als sie ihre Pläne mit Richmond schon dahinschwinden sah, beeilte Clarice sich, sie zu retten. »Nein, Madam«, sagte sie hastig, »ich gehe mit Odette. Und diese Kakerlakengeschichte habe ich meiner Cousine sowieso nicht wirklich geglaubt. Sie denkt sich gern solche Sachen aus.«
Mrs Jackson verließ das Zimmer ohne ein weiteres Wort, und Odette und Clarice machten sich auf den Weg zu Barbara Jean.
Plainview hatte die Form eines Dreiecks. Leaning Tree lag in der südöstlichen Ecke davon. Um zu Barbara Jeans Haus zu gelangen, mussten die beiden Mädchen die Wall Road in die südliche Richtung hinunterlaufen und dann über einige Seitenstraßen ans hinterste Ende der Dreiecksspitze.
Die Mauer, die der Straße ihren Namen gab, war gebaut worden, als befreite schwarze Sklaven nach dem Bürgerkrieg anfingen, sich in Plainview anzusiedeln. Eine Gruppe, bestehend aus führenden Bewohnern der Stadt unter der Leitung von Alfred Ballard – dessen Haus Barbara Jean eines Tages besitzen sollte – beschloss, eine drei Meter hohe und acht Kilometer lange Steinmauer errichten zu lassen. Damit sollten die wohlhabenden Weißen, die in der Innenstadt wohnten, vor dem zu erwartenden Rassenkrieg geschützt werden. Weiter nördlich befanden sich die ärmeren Weißen zwar zusammen mit den Schwarzen auf der Ostseite der Mauer, aber die Stadtanführer waren wohl der Ansicht, diese wüssten sich schon selbst zu helfen. Als sich die neuen Anwohner dann als weniger beängstigend entpuppten als vermutet, schwand auch der Zuspruch zum Mauerprojekt. Der einzige Abschnitt von Ballards Mauer, der seine drei Meter aufragende Planungshöhe erreicht hatte, war das Stück, das Leaning Tree von der Innenstadt trennte. Der Rest der geplanten Mauer erschöpfte sich in vereinzelten Steinhaufen, die eine unterbrochene Trennlinie durch die Stadt bildeten.
Dieser Teil der Geschichte von Leaning Tree wurde von allen so weit als Tatsache betrachtet. Die Kinder von Plainview lernten dieses Stück Lokalgeschichte in der Schule, wobei die ästhetischen Aspekte der Mauer die Problematik einer fragwürdigen Rassenpolitik weitgehend verdrängten. Aber was das Thema der Namensgebung von Leaning Tree anbetraf, gingen die Geschichte, die an den Schulen gelehrt wurde, und das, was die schwarzen Kinder zu Hause erfuhren, in zwei völlig unterschiedliche Richtungen.
Von ihren Lehrern lernten sie, dass die frühen Siedler das südwestliche Gebiet der Stadt aufgrund eines geheimnisvollen Naturphänomens Leaning Tree nannten, das dazu führte, dass sich die Bäume dort alle nach Westen neigten.
An den Esstischen zu Hause wurde den Kindern jedoch erzählt, dass hinter den schiefen Bäumen keinerlei Geheimnis steckte, sondern dass Ballards Mauer, weil die Innenstadt höher gelegen war, einen Schatten auf die Siedlung warf. Doch die Bäume dort brauchten Sonnenlicht, also neigten sie sich. Jeder Baum, der im Schatten dieser Mauer nicht eingegangen war, wurde groß mit üppiger Krone und war sichtlich schief.
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