Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
gingen zur Tür, um ihre Freundin und noch ein paar Accessoires für ihre Kostüme abzuholen. Barbara Jean hatte vorgeschlagen, auf die Hinterlassenschaften ihrer Mutter aus Kunstpelz und überdimensionalem Plastikschmuck zurückzugreifen, um ihre Kostüme perfekt zu machen.
Sie standen auf der Veranda, als Clarice sah, wie sich ein seltsamer Ausdruck auf Odettes Gesicht legte. Sie wusste nicht, worauf Odette da reagierte. Vielleicht ein Geräusch oder einen Geruch. Aber Clarice hatte gerade die Hand gehoben, um an die Tür zu klopfen, da sagte Odette: »Hier stimmt was nicht.«
Bevor Clarice etwas sagen konnte, drängte sich Odette an ihr vorbei und drehte den Türknauf. Die Tür ging auf, und sie stürmte hinein. Ohne an die möglichen Konsequenzen zu denken, folgte Clarice ihr, und beide bewegten sich in einer Art trippelndem Schlurfen aufgrund der Einschränkungen durch ihre Kostüme.
Barbara Jean saß in ihrem glänzenden goldenen Kleid in einem abgewetzten, mit weinrotem Samt dick gepolsterten Sessel in einer Ecke des Wohnzimmers. Sie hatte ihre nackten Beine vor die Brust gezogen und hielt die Perücke mit beiden Händen umklammert. Die Kunstpelze und der Plastikschmuck, den sie und ihre Freundinnen heute Abend tragen wollten, lagen auf einem Haufen am Boden vor dem Sessel. Sie blickte nicht auf, als Odette und Clarice ins Zimmer kamen.
Vondell, ihr Stiefvater oder was auch immer er sein mochte, stand neben Barbara Jeans Sessel. Er war einen Monat zuvor verschwunden, was Barbara Jean das Leben leichter gemacht und sie hatte hoffen lassen, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben müsste. Mit den Gratismahlzeiten bei Odette oder Clarice zu Hause, dem Trinkgeld, das sie im Friseursalon bekam, und der niedrigen Miete der Bruchbude, in der sie wohnte, war Barbara Jean in der Lage gewesen, sich einen Teenagertraum zu erfüllen. Sie hatte ein eigenes Haus und war völlig unabhängig.
Aber nun war Vondell zurück, und er sah noch schlimmer aus als beim letzten Mal, als sie ihn gesehen hatten. Sein stoppliger, angegrauter Bart war dichter geworden, und seine stark behandelten Haare herausgewachsen, also waren sie kraus an der Wurzel und an den Spitzen verfilzt. Und dann war da noch sein Geruch, der den Raum durchdrang, diese stechende Mischung aus Zigaretten, Whiskey und mangelnder Körperhygiene.
Er starrte Odette und Clarice eine Minute lang an. Dann sagte er: »Barbara Jean, du hast mir gar nicht gesagt, dass wir heute Abend Gesellschaft haben werden.« Sein breiter, froschartiger Mund weitete sich zu einem Grinsen, während er sprach, aber keiner im Raum spürte auch nur einen Funken Freundlichkeit in ihm.
»Hallo, Sir«, sagte Odette, »wir gehen heute Abend zu einer Geburtstagsparty und wollten Barbara Jean nur schnell abholen.« Sie schaute zu Barbara Jean auf dem Sessel und sagte: »Los, Barbara Jean. Wir wollen nicht zu spät kommen.«
Doch Barbara Jean rührte sich nicht. Sie sah bloß kurz zu Vondell auf und starrte dann wieder auf ihre Knie. Der kräftige Mann hatte sein Grinsen verloren. Er starrte auf sie hinunter, und sein Blick warnte sie, bloß nicht aufzustehen.
Nun mischte sich Clarice ein und sagte: »Ja, wir müssen bei mir zu Hause noch unsere Haare und Nägel machen und …« Sie verlor den Mut und sprach nicht zu Ende. Es hörte ihr sowieso keiner zu. Der Kampf war bereits eröffnet, und er wurde zwischen den anderen drei Leuten im Raum ausgefochten.
Ein längeres Schweigen trat ein, während dem Clarice nur das Atmen des Mannes und das Geräusch des Plastikläufers hörte, der unter ihren Füßen knirschte, als sie Zentimeter für Zentimeter den Rückzug in Richtung Tür antrat. Dann sagte Vondell: »Ich denke, ihr schert euch jetzt mal lieber raus hier. Barbara Jean geht heute nicht aus.«
Sein Ton versetzte Clarice fast in Todesangst, und sie rannte zur Tür. Doch Odette rührte sich nicht vom Fleck. Sie blickte zwischen Barbara Jean, die noch immer in dem schäbigen Sessel kauerte wie eine verängstigte Zweijährige, und dem massigen Mann hin und her. Der war noch näher an Barbara Jean herangerückt und strich ihr nun in falscher väterlicher Zuneigung, bei der es Clarice beinahe den Magen umdrehte, übers Haar.
Odette sagte: »Ich habe noch nicht gehört, was Barbara Jean will. Wenn sie möchte, dass wir gehen, kann sie es uns selbst sagen.«
Vondell machte einen Schritt auf Odette zu und stemmte die Hände in die Hüften, um sich noch mehr aufzuplustern. Er achtete darauf
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