Mrs Roosevelt und das Wunder von Earl’s Diner: Roman (German Edition)
deshalb nicht glaubte, dass sich das positiv auf meinen Heilungsprozess auswirken würde. Clarice war völlig aufgebracht und schaute mich an, als sei ich verrückt geworden. »Ein schlechtes Gewissen zu haben ist doch genau das, worum es beim Kirchgang geht, Odette. Weißt du das etwa nicht?«
Ich ging bei Barbara Jean vorbei und erzählte ihr bei einer Tasse Tee in ihrer Bibliothek von meiner Diagnose. Sie schwieg so lange, dass ich schließlich fragte: »Bist du okay?«
Sie setzte an, zu sagen: »Wie lange hast du noch?« oder »Wie lange geben sie dir?« Aber nach den ersten beiden Worten besann sie sich und machte ein »Wie lange … weißt du es schon?« daraus.
Wir redeten eine Stunde lang, und ich denke, als ich schließlich ging, hatte ich sie davon überzeugt, dass ich zumindest noch eine geringe Überlebenschance hatte.
Mein Bruder Rudy verkündete, dass er herkommen und sich um mich kümmern werde, sobald er sich loseisen könne. Ich sagte ihm, dass das nicht nötig sei, es mir gut gehe und jede Menge Leute auf mich aufpassen würden. Und ich zog ihn wie jedes Jahr damit auf, dass Südkalifornien sein Blut bestimmt so dünn gemacht hätte, dass er es in Indiana im Herbst oder Winter gar nicht mehr aushalten würde. Doch mein Bruder, der so altmodisch sein konnte, dass es schon lästig war, bestand weiter darauf, herzukommen. Er lenkte erst ein, nachdem ich James den Hörer gereicht hatte und Rudy von meinem Ehemann überzeugen ließ, dass sich bereits ein vernünftiger Mann um mich kümmerte.
Denise weinte ein oder zwei Minuten lang, beruhigte sich dann aber schnell und glaubte meiner Beteuerung, dass alles halb so schlimm sei. Dann folgte sie meinem Beispiel und unterhielt sich mit mir über die Enkelkinder. Ich hörte Jimmys Finger auf der Computertastatur, als ich es ihm erzählte. Fakten hatten schon immer eine beruhigende Wirkung auf ihn gehabt, und als wir auflegten, war er bereits auf dem besten Wege, ein Experte für Lymphome zu werden. Eric sagte am Telefon kaum ein Wort, aber ein paar Tage später stattete er mir einen Überraschungsbesuch in Plainview ab. Eric wich eine Woche lang nicht von meiner Seite, und auch wenn ich ihn anschnauzte, weil er mir permanent im Nacken saß, genoss ich es sehr, ihn wieder einmal bei mir zu Hause zu haben.
Alles in allem nahmen sie die Neuigkeit von meiner Krankheit den Umständen entsprechend gut auf. Selbst als sich mein Zustand verschlimmerte und allen klar wurde – letztendlich sogar mir –, dass ich nicht zu den vereinzelten Patienten gehörte, die mit nichts als ein paar Bauchschmerzen durch die Chemotherapie schipperten, machten mir meine Freunde und meine Familie Mut. Ich denke, alle waren, was meine Heilungschancen betraf, optimistischer, wenn sie sahen, dass ich gegen meine Krankheit so anstürmte, wie ich auch alles andere in meinem Leben in Angriff nahm. Sie alle fanden kaum etwas tröstlicher, als zu sehen, wie ich mich mit erhobenen Fäusten in die Schlacht stürzte.
15
Einen Monat vor Little Earls achtzehntem Geburtstag sagte ihm ein hübsches Mädchen in der Schule, dass er aussehe wie Martin Luther King. Dann ließ sie ihn im Namen der Solidarität unter Schwarzen seine Hand unter ihre Bluse schieben. Dies veranlasste Little Earl dazu, seinen Geburtstag in jenem November mit einer Kostümparty zu feiern, damit er sich als Dr. King verkleiden konnte, in der Hoffnung mehr junge Frauen kennenzulernen, die leidenschaftliche Anhängerinnen der Bürgerrechtsbewegung waren.
Clarice, Odette und Barbara Jean hatten vor, sich als The Supremes zu verkleiden, da ihre Freunde, Familien und sogar einige Lehrer sie mittlerweile so nannten. Sie arbeiteten wochenlang an ihren Kostümen. Odette übernahm größtenteils das Nähen und steppte glänzende, goldene ärmellose Kleider zusammen. Mit Hilfe von Heißkleber verzierten sie alte Schuhe mit Glitter. Und Barbara Jeans Chef aus dem Friseursalon lieh ihnen für diese Gelegenheit drei Perücken aus Acrylfaser mit identischer Toupierfrisur.
Am Abend der Party war der Plan, dass sich alle zu Hause in Schale werfen würden. Clarice hatte einen gebrauchten Buick bekommen, nachdem eine dritte Klavierstunde mit Mrs Olavsky auf ihren wöchentlichen Terminkalender gesetzt worden war und ihre Mutter die ewigen Chauffeurspflichten satt hatte. Also sollte Clarice die anderen Mädchen zu Hause einsammeln, um sie anschließend zu Earl’s Diner zu fahren. Clarice hielt vor Barbara Jeans Haus, und Odette und sie
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