Mueller und die Tote in der Limmat
verinnerlicht. Weil Stadtplan = auch sozialgeografischer Plan. Elisabethenstrasse, he, Elisabethenstrasse, ja, Grenzgebiet Kreis 4 zu Kreis 3, Aussersihl zu Wiedikon, beim Tramdepot gleich hinter dem Bahnhof Wiedikon. Dort wogt natürlich weit und breit kein Swimmingpool, weil alles durchasphaltiert und Betonparadies → noch heisser als heiss, die Temperatur. Kein Arrondissement für gekrönte Häuptlinge hier. Auf der einen Strassenseite hockt das massive Depot, auf der ganzen Länge von der Zweier- bis zur Kalkbreitestrasse. Die andere Strassenseite Wohnhäuser. Zehner, zwanziger, dreissiger Jahre, dazwischen jüngere Bausünden, fünfstöckig, verblichen. In der Häuserzeile eine serbisch-orthodoxe Kirche, nehme ich an, weil Schriftzug am Gebäude, aber Gitter immer zugezogen, dürre Blätter und Papier im Windfang. Nirgends ein Funke Repräsentation. Bevölkerung: untere Mittelschicht, könnte man sagen, gewürzt mit WG s, Kreativen und dem Restproletariat, das noch nicht in die Vororte rausgequetscht wurde. Relativ ruhige Gegend, obwohl hinter dem Depot der tiefergelegte Bahneinschnitt, wo die Züge durchquietschen. Und im Rücken, ein bisschen unübersichtlich, zwei Parallelstrassen weiter die Badenerstrasse. Viel Verkehr. Sicher viel Feinstaub. Aber den sieht man nicht. Und zu Fuss nur drei Minuten weg die Langstrasse. Soweit das Tableau.
Hier ist der Müller auf der Suche nach Sandras Wohnung. Das heisst, er weiss, wo sie steht, also eher «auf der Pirsch» als «auf der Suche», aber das ist natürlich bildlich, und die Lage ist gut, weil man von da her mit dem Velo in keiner Zeit überall ist, aber «gute Lage» irgendwie nur, wenn der Mensch nicht so hollywoodeske Ansprüche stellt, sondern Bedürfnis der werktätigen Bevölkerung, wovon der Müller Teil.
Der Müller stellt nicht so hollywoodeske Ansprüche überhaupt. Nein, weil seine Herkunft ländlich und einfach, und das hörst du trotz seiner Herkunft am Dialekt: Du meinst, er kommt aus Altstetten. Passt zu Elisabethenstrasse. Ich sage nur: unglamourös. Und überdies hinaus: So gut ist der Zürcher Polizeimann nicht besoldet und jetzt Ex-Polizeibeamter oder noch-nicht-wieder-Polizeibeamter, er weiss nicht, wie das beruflich weitergeht und erst privat … aber sprechen wir nicht von privat. Darum geht er weiter. Apropos «Wohnungen in Zürich», gibt ja nur zwei Möglichkeiten: totalsaniert = völlig überteuert; verlottert = ziemlich überteuert. In der Elisabethenstrasse, der Müller, er sieht das Haus: Altbau, die Eingangstür ist offen, geht ins Treppenhaus, abgenutzt, aber sauber, dritter Stock, drei Namen auf der Tür: «Molinari, Huber, Krstic», wie überall. Und klingelt. Aber kommt niemand, obwohl erst frühmorgens acht Uhr. Darum jetzt vielleicht ein Vorurteil korrigieren: Muss nicht sein, dass Wohngemeinschaftsbewohner im Alkoholrausch auf dem verkotzten Sofa vor sich hin röcheln oder mit Gruppensex beschäftigt sind (ohne Alkoholrausch und verkotztes Sofa), weil auch Bewohner von Wohngemeinschaften ehrlich sind und arbeiten und Musiker auch. Das heisst, wir wissen vielleicht noch nicht ganz sicher, dass «Huber» und «Krstic» auch Musiker sind, aber der Müller vermutet es, weil die Polizei sowieso Internet hat und er zu Hause auch, und die schlaue Internetsuchmaschine ist nicht auf den Kopf gefallen. Und der Müller hat sich natürlich voll eingeprägt, was da stand, weil das ist das A und O vom Ermittlerberuf. Nach einer Weile geht einem das alles schon in Fleisch und Blut über, und man macht das ganz automatisch, ohne nachzudenken tut man ganz instinktiv das Richtige und schleicht sich an die Höhle des Löwen heran, mit mächtig Informationen im Kopf und keiner Waffe in der Tasche, denn der Müller Benedikt ist ja nicht mehr im Dienst.
An der Türe ein Plakat von einer US -amerikanischen Kultband.
Er klingelt nochmals.
Aber es kommt wirklich niemand zur Türe, und er wird später einmal anrufen. Ist altmodisch, weiss der Müller, dass nicht jetzt sofort Mobilanruf eintippt. Ist vielleicht sein Trick: Bis er wirklich anruft, weiss er vielleicht etwas mehr, weil im Futur noch besser vorbereitete Fragen und mehr alternative Fragestrategien im Köcher. Das gute alte Good-guy-bad-guy-Spiel könnte der Müller natürlich jetzt nicht spielen, weil er allein sich ja nicht als zwei Personen aufführen kann, sonst würden die Verhörten am Ende noch meinen, er sei nicht ganz bei Trost und rufen den Notfallpsychiater, doch das ist er
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