Muensters Fall - Roman
beobachtete zwei Sekunden lang das Stirnrunzeln auf der waschbrettgewellten Stirn des Reporters. Dann eilte er quer über die Straße und sprang in sein Auto.
Das hätte ich nicht sagen sollen, dachte er.
10
Im Roten Moor dominierten Stuckverzierungen, trübe Kronleuchter und geflissentliche Frauen. Münster ließ sich im Schatten eines eichenvertäfelten Flügels nieder und hoffte, dass der Pianist keine Mittagsschicht machte. Während er dort saß und wartete und durch die nassen Fensterscheiben auf den Salutorget und das einsetzende Menschentreiben draußen schaute, begann er auch zum ersten Mal in diesem Fall ein Gefühl der Konzentration zu entwickeln.
So lief es immer. Es dauerte jedes Mal seine Zeit, bis die erste Abneigung verschwand, einen Tag oder ein paar Tage, bis er in der Lage war, die unmittelbare Abwehr gegen die Tat abzuschütteln,
die immer anfangs vorhanden war, der Startschuss und der Eröffnungszug bei jedem neuen Fall. Bei jedem neuen Arbeitsauftrag.
Und der Ekel. Immer dieser Ekel. Am Anfang seiner Karriere, als er fast seine gesamte Dienstzeit in nachtklammen Überwachungswagen oder bei trostlosen Beschattungsunternehmungen und Türklinkenputzaktionen verbracht hatte, hatte er geglaubt, das würde vorübergehen, wenn er nur erst einmal gelernt hatte, den Widrigkeiten ins Auge zu sehen, aber mit den Jahren hatte er einsehen müssen, dass das nicht der Fall war. Eher im Gegenteil: Je älter er geworden war, umso wichtiger erschien es ihm, sich selbst zu schützen und die Dinge auf Distanz zu halten. Und erst wenn die anfänglichen Wogen der Abscheu sich langsam legten, abebbten, hatte es Sinn, sich dem Ganzen intensiver zuzuwenden, genau zu prüfen und zu versuchen, sich in die Natur der Straftat hineinzuvertiefen. In ihren wahrscheinlichen Hintergrund. Die Ursachen und Motive.
Den Kern des Ganzen, wie Van Veeteren es nannte.
Das Muster.
Einen Teil dieser Strategien hatte sicher der Hauptkommissar ihm vermittelt, aber bei weitem nicht alle. Während der letzten Jahre – der letzten Fälle – war Van Veeterens Abscheu größer gewesen als sein eigener, das konnte er mit Sicherheit sagen. Obwohl das vielleicht auch nur das gute Recht des Alters war, dachte Münster. Des Alters und der Weisheit.
Schwer zu sagen. Es war sicher auch im letzten Jahr des Hauptkommissars eine Art Muster zu finden. Und in seinem jetzigen Dasein zwischen all diesen Büchern. Dieses Unergründliche, das die Determinanten genannt wird und mit dem Münster nie so richtig zurecht gekommen war. Er hatte nie begriffen, was es eigentlich beinhaltete. Aber vielleicht würde er das auch noch entdecken. Zeit und Trägheit waren nicht allein das Spielbrett des Vergessens, manchmal auch das der langsamen Erkenntnis. Wirklich.
Aber nun zu Waldemar Leverkuhn.
Münster stützte seinen Kopf auf die Hände.
Ein zweiundsiebzigjähriger Rentner wird im Schlaf getötet. Brutal ermordet mit einer haarsträubenden Anzahl an Messerstichen – sinnlose Gewaltanwendung, wie man so sagt, ein zweifelhafter Terminus natürlich, aber hier hatte er vielleicht seine Berechtigung.
Warum?
Warum, zum Teufel, alle diese Messerstiche?
Eine Kellnerin mit weißem Häubchen hustete diskret, aber Münster bat sie, noch mit der Bestellung warten zu dürfen, bis seine Begleitung kam, und daraufhin zog sie sich zurück. Er drehte dem Lokal den Rücken zu und betrachtete stattdessen zwei Tauben, die draußen auf dem nassen Fensterbrett hin und her trippelten, während er versuchte, sich Leverkuhns zerhackten Körper vor seinem inneren Auge vorzustellen.
Achtundzwanzig Stiche. Worauf deutete das hin?
Das lag auf der Hand. Auf Wut natürlich. Besinnungslose Raserei. Die Person, die dem armen Alten ein Ende bereitet hatte, hatte das in einem Zustand vollkommener Kontrolllosigkeit getan. Es hatte keinen Grund gegeben, nach den ersten vier, fünf Hieben mit der Stecherei weiterzumachen, wenn man nur darauf aus war, das Opfer zu töten. Meusse hatte sich in diesem Punkt eindeutig ausgedrückt: die letzte halbe Minute – die letzten fünfzehn, zwanzig Messerstiche – waren ein Ausdruck für etwas anderes als den Willen zu töten.
Raserei? Wahnsinn? Rache und Vergeltung möglicherweise? Ein lange gehegter alter Hass, der jetzt endlich seine eruptive Erlösung fand?
Letzteres war natürlich reine Spekulation, aber sie war logisch, und es gab nichts, was ihr widersprach.
Die Spekulation, dass es ein tief verborgenes Motiv gab
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