Muensters Fall - Roman
ihn vielleicht schon seit langer Zeit kannten und etwas gegen ihn hatten?«
»Nein ...« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe und versuchte nachdenklich auszusehen. »Nein, ich habe wirklich keine Ahnung.«
»Andere Verwandte?«
»Nur Onkel Franz ... aber der ist vor ein paar Jahren gestorben.«
Münster nickte.
»Und wie war das Verhältnis zwischen Ihrer Mutter und Ihrem Vater?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Die haben zusammengehalten.«
»Ja, offenbar«, sagte Münster. »Hatten sie einen großen Bekanntenkreis?«
»Nein ... nein, fast gar keinen, glaube ich.«
Münster dachte eine Weile nach.
»Wollen Sie jetzt anschließend zu Ihrer Mutter fahren?«
»Ja«, antwortete Ruth Leverkuhn. »Natürlich will ich das. Was haben Sie denn gedacht?«
Die letzte Konvention, dachte Münster.
»Was arbeiten Sie?«
»Ich arbeite als Verkäuferin in einem Geschäft.«
»In Wernice?«
»Ja.«
»Was haben Sie am Samstagabend gemacht?«
»Warum fragen Sie das?«
»Was haben Sie gemacht?«
Sie zog ein Papiertaschentuch heraus und wischte sich den Mund ab.
»Ich war zu Hause.«
»Wohnen Sie allein?«
»Nein.«
»Mit einer Freundin zusammen?«
»Ja.«
»Und sie war auch zu Hause am Samstagabend?«
»Nein, das war sie nicht, warum stellen Sie diese Fragen?«
»Wissen Sie noch, was Sie Ihrer Mutter vor fünfzehn Jahren zu Weihnachten geschenkt haben?«
»Wie bitte?«
»Ihr Weihnachtsgeschenk«, wiederholte Münster, »neunzehnhundertzweiundachtzig?«
»Wie sollte ich ...?«
»Ein Fleischmesser«, sagte Münster. »Stimmt’s?«
Er sah, dass ihre Gesichtsmuskeln zu zucken begannen, und er konnte sich denken, dass es bis zum Weinen nicht mehr weit war. Was mache ich hier eigentlich, verdammt noch mal?, dachte er. In diesem Job wird man zum Sadisten.
»Warum ...?«, stammelte sie. »Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen. Was soll diese Frage nach ...?«
»Reine Routine«, sagte Münster. »Nehmen Sie es nicht persönlich. Bleiben Sie die Nacht über hier?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich glaube nicht. Ich werde wohl heute Abend zurückfahren ... es sei denn, dass Mama mich bei sich haben will.«
Warum sollte sie das wollen?, dachte Münster. Dann schlug er seinen Block zu und streckte eine Hand über den Tisch.
»Vielen Dank, Frau Leverkuhn«, sagte er. »Es tut mir Leid, dass ich Sie in dieser schwierigen Zeit quälen musste, aber wir wollen doch alle, dass der Mörder Ihres Vaters gefasst wird, nicht wahr?«
»Ja ... ja, natürlich.«
Sie gab ihm für eine halbe Sekunde lang vier kalte Finger.
Münster schob seinen Stuhl zurück und stand auf.
»Ich glaube, Sie schaffen es noch rechtzeitig zur Parkuhr.«
Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, stopfte hastig Zigaretten und Feuerzeug in die Handtasche und sprang auf.
»Danke«, sagte sie. »Ich hoffe ...«
Er würde nie erfahren, was sie hoffte. Stattdessen versuchte sie, ein Lächeln hervorzubringen, aber als ihr das nicht gelingen wollte, drehte sie sich auf den Hacken um und verließ ihn.
Ja ja, dachte Münster und winkte die Kellnerin zu sich. Wieder so eins von diesen Gesprächen.
Der Extrakt eines Lebens in zwanzig Minuten. Wie kommt es nur, dass das Leben anderer sich so glasklar darstellt, während das eigene sich hartnäckig jeder Bewertung und Reflexion entzieht?
Er wusste es nicht. Eine von diesen Fragen.
11
Nachdem Marie-Louise Leverkuhn sich ausgeweint hatte – ein verhältnismäßig kurz anhaltender Gefühlsausbruch nur weniger Minuten – nahm Emmeline von Post den Arm von der Schulter der Freundin und schlug vor, doch am Fluss entlang einen Spaziergang zu machen. Das Wetter war gar nicht so schlecht, sicher, der eine oder andere Schauer war im Laufe des Tages zu erwarten, aber es gab Regenzeug und Gummistiefel. Für beide.
Frau Leverkuhn putzte sich die Nase und lehnte dankend ab. Sie blieb noch einen Moment am Küchentisch sitzen – wie ein verletzter, verlebter Vogel, kam ihrer Gastgeberin in den Sinn —
und erklärte schließlich, dass sie sich trotz allem noch ein wenig ausruhen müsste, bevor sie ihre Kinder treffen würde. Die Tochter Ruth wurde ja bereits zur Mittagszeit erwartet, und es war nicht ganz klar, wer eigentlich wen stützen musste.
Emmeline verstand die letzten Worte nicht so recht, machte aber weiterhin gute Miene zum bösen Spiel und gab dem Willen der frisch gebackenen Witwe nach. Sie beschloss stattdessen, allein einen kürzeren Spaziergang zu unternehmen –
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