Muensters Fall - Roman
dicke Rosshaardecke bis über Schultern und Kopf gezogen, dennoch weiß er, dass es Erich ist.
Sein Sohn Erich.
Sein haltloser Unglücksvogel Erich. Er zögert, und während er in der engen Türöffnung steht und nicht weiß, was er machen soll oder was von ihm erwartet wird, hört er, wie das scharfe Geräusch der Messer lauter wird, und plötzlich, plötzlich sieht er, wie einer dieser Dolche durch den Raum schwebt.
Wie er mitten in der Luft über dem Schlafenden auf der Bank hängen bleibt. Ein großer, kräftiger Dolch, beleuchtet von schräg darauf fallenden Strahlen, glänzend und langsam kreisend, bis die Spitze der scharf geschliffenen Schneide direkt auf den Mann zeigt. Auf Erich. Auf seinen Sohn.
Er zögerte immer noch. Geht vorsichtig heran und zieht dem Schlafenden die Decke vom Kopf. Und es ist nicht Erich, der dort liegt. Es ist Münster.
Kommissar Münster, der auf der Seite liegend schläft, ganz friedlich, die Hände unter dem Kopf und nichts Böses ahnend, und Van Veeteren begreift nicht, was hier vor sich geht. Er legt die Decke zurück, genauso vorsichtig, hört Stimmen und schwere Schritte, die sich nähern, und bevor er noch den Raum verlassen und sich in Sicherheit bringen kann, wacht er auf.
»Das hört sich an wie bei Macbeth. Merkwürdig nur, dass ich so sicher war, dass Erich dort lag, und dann war es Münster.«
Ulrike Fremdli gähnte und stützte ihren Kopf auf die Hände. Schaute ihn über den Küchentisch mit einem Blick an, der fast vor Müdigkeit schielte. Ein unerhört charmantes Schielen, dachte er.
»Du bist schon ein komischer Kauz«, sagte sie.
»Blödsinn«, sagte Van Veeteren.
»Überhaupt nicht«, sagte Ulrike Fremdli und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Als du das erste Mal in meinem Leben auftauchst, geht es darum, dass du herausfinden willst, wer meinen Mann ermordet hat. Dann wartest du mehr als ein Jahr, bevor du wieder Kontakt mit mir aufnimmst, und jetzt sitzt du hier am Neujahrsmorgen und willst, dass ich deine Träume deute. Übrigens, es war eine schöne Nacht, wollte ich noch sagen.«
»Danke, gleichfalls«, sagte Van Veeteren und merkte, dass er wieder schmunzelte. Das schien offensichtlich zur Gewohnheit zu werden. »Nun ja, Frauen verstehen sich besser auf Träume«, rechtfertigte er sich. »Zumindest gewisse Frauen.«
»Habe ich auch immer gedacht«, sagte Ulrike Fremdli. »Das
heißt, im Großen und Ganzen bin ich ganz deiner Meinung, aber gerade du hast da eine Ader, die mindestens so intuitiv ist wie meine. Und dabei hatte ich gedacht, dass so ein alter Kriminaler viel handfester sein würde, aber das ist vielleicht auch nur ein Vorurteil?«
»Hm, ja«, sagte Van Veeteren. »Wir wissen ja so wenig.«
»Ach ja?«
Sie schnitt sich eine Scheibe Käse ab und kaute nachdenklich. Dann streckte sie ihren nackten Fuß unter dem Tisch vor und strich ihm damit über die Wade.
»Hm«, sagte Van Veeteren von Neuem. »Nur einen Bruchteil von dem großen Ganzen. Ich meine, was wir so wissen. Und wenn wir nicht hellhörig bleiben, wird es nur ein verdammt kleiner Bruchteil.«
»Weiter«, sagte Ulrike Fremdli.
»Tja«, sagte Van Veeteren. »Das ist natürlich eins meiner privaten Steckenpferde, weißt du, aber da du zu müde zu sein scheinst, um mir zu widersprechen, kann ich es vielleicht ein wenig ausführen ...«
Sie streckte auch noch den zweiten Fuß aus.
»Eine ganz unterwürfige Theorie übrigens«, erklärte er. »Sollte zu einer klugen Frau wie dir eigentlich passen. Einer Frau mit unterwürfigen Füßen ... nein, nein, mach weiter. Nun, lass uns also einmal annehmen, dass es eine unendliche Menge von Verbindungen, Beziehungen und Mustern in der Welt gibt und dass die Allerklügsten von uns vielleicht, na, sagen wir ein Hundertstel davon zu begreifen vermögen – und wagen! Die Trägsten ein Tausendstel ... oder ein Zehntausendstel, wie viel ich selbst kapiere, das lassen wir lieber außen vor. Das meiste davon kommt zu uns auf anderen Wegen als dem, was das so genannte westliche Denken bereit ist zuzulassen. Dieser deduktive Terror. Obwohl das hier in keiner Weise in einem Gegensatz dazu steht. Oder es bedroht. Eher im Gegenteil ... denn es muss doch einfacher sein, Dinge zu begreifen, als zu begreifen, wie wir sie begreifen. Unser Wissen von dieser Welt muss doch immer größer sein als
das Wissen vom Wissen ... ja, hm, so in der Art, ungefähr. Also, wie gesagt ...«
Ulrike Fremdli überlegte einen Augenblick.
»Klingt
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