Muensters Fall - Roman
abschneiden. Danach bestellte er den Arzt, schluckte zwei Tabletten gegen seinen nervösen Magen und rief Kommissar Münster an.
Münster fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten und betrachtete die tote Frau auf der Pritsche in der Zelle zehn Sekunden lang. Er fragte Füller, wie zum Teufel so etwas hatte geschehen können, nahm den Briefumschlag an sich und fuhr wieder zu seinem Arbeitszimmer hinauf.
Nachdem er den Brief zweimal gelesen hatte, rief er Moreno zu sich und erklärte ihr die Lage.
»Vollkommen eindeutig«, sagte Moreno, nachdem auch sie die letzten Worte von Marie-Louise Leverkuhn an die Nachwelt erfahren hatte.
»Kann man so sehen«, bestätigte Münster. »Sie hat Schluss mit ihrem Mann gemacht, und jetzt war es Zeit für sie selbst. Eine reichlich entschlussfreudige Frau, das kann keiner leugnen.«
Er stand auf und schaute in den Regen hinaus.
»Aber dass es möglich ist, sich in der U-Haft das Leben zu nehmen«, brummte er. »Die dürfen jetzt erst mal ihre Arbeitsabläufe überprüfen. Hiller sah aus wie eine Pflaume kurz vorm Explodieren, als er davon Wind bekommen hat.«
»Das kann ich mir denken«, meinte Moreno. »Wie dem auch sei, saubere Handarbeit. Du hast das Seil doch gesehen? Viermal geflochten, das muss einige Sekunden gedauert haben ... ein Mann hätte das nie hingekriegt.«
Münster antwortete nicht. Es vergingen einige Sekunden des Schweigens.
»Warum hat sie das gemacht?«, fragte Moreno. »Ich meine, da steht zwar, dass sie keine Lust hatte, die letzten Jahre ihres Lebens im Gefängnis zu verbringen, aber ... ja, war das alles?«
»Was sollte denn sonst noch sein?«, fragte Münster. »Das ist
doch wohl Grund genug, denke ich mal. Wenn man sich über etwas wundern will, dann doch wohl eher darüber, dass sie bis jetzt damit gewartet hat. Schließlich ist es ja mit gewissen Schwierigkeiten verbunden, im Knast Selbstmord zu begehen. Auch wenn man geschickt ist und die Bewachung schlecht ... oder was meinst du damit? Warum erst jetzt?«
Moreno zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nicht. Es hat wahrscheinlich nicht viel Sinn, darüber weiter zu spekulieren. Schließlich ist es passiert.«
Münster seufzte und drehte sich um.
»Was für ein sinnloses Leben«, sagte er.
»Das von Marie-Louise Leverkuhn?«
»Ja. Oder kannst du irgendwo einen Sinn drin sehen? Sie hat ihren Mann umgebracht und sich selbst das Leben genommen. Eines ihrer Kinder sitzt in der psychiatrischen Anstalt, und die beiden anderen machen keinen einzigen Menschen froh. Keine Enkelkinder. So, und jetzt sag mir bitte schön, was für ein Sinn darin stecken könnte, den ich vielleicht übersehen habe?«
Moreno warf einen Blick auf den Brief. Faltete ihn zusammen und schob ihn wieder in den Umschlag.
»Nein«, sagte sie. »So ist es wohl. Meistens handelt es sich bei den Fällen, in die wir verwickelt sind, ja nicht gerade um die reinsten Sonnenscheingeschichten.«
»Kann schon sein«, sagte Münster. »Aber das muss doch auch seine Grenzen haben ... irgendeine Perle in all dem Dreck muss doch zu finden sein. Was machst du Weihnachten?«
Moreno verzog das Gesicht.
»Hauptsache, ich entkomme Claus«, sagte sie. »Er fliegt morgen zurück. Zuerst habe ich überlegt, ob ich arbeiten soll, aber dann habe ich eine alte Freundin getroffen, die gerade verlassen wurde. Wir nehmen uns sechs Flaschen Wein mit und fahren in ihr Haus am Meer.«
Münster lachte. Traute sich nicht zu fragen, wie es eigentlich um Claus stand. Und um sie selbst. Es gab Dinge, die ihn nichts angingen, und je weniger er fragte, umso besser. Umso sicherer.
»Gut«, sagte er. »Schwimm nur nicht zu weit raus.«
»Versprochen«, sagte Moreno.
»Ich werde morgen arbeiten«, sagte Münster und mischte das Kartenspiel für Marieke. »Danach habe ich sechs Tage frei.«
»Wird auch Zeit«, erklärte Synn. »Ich will nicht wieder Zustände haben wie im Herbst. Wir müssen eine Strategie finden, um damit umzugehen.«
»Eine Strategie?«, wiederholte Münster.
»Schtarte-schie«, sagte Marieke. »Kreuz Bube!«
»Ich meine es ernst«, sagte Synn. »Es ist besser, die Depressionen zu bekämpfen, bevor sie übermächtig werden. Wir brauchen Zeit zum Leben. Erinnere dich daran, dass meine Mutter mit fünfundvierzig zusammengebrochen ist. Sie ist zwar siebzig geworden, hat die letzten fünfundzwanzig Jahre aber kein einziges Mal gelacht.«
»Ich weiß«, sagte Münster. »Aber du bist erst achtunddreißig. Und siehst aus wie
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